© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Der Lenz will nicht grüßen
10 Jahre „Arabellion“: Den Rufen nach Demokratie folgten blutige Bürgerkriege und eine forcierte illegale Migration in Richtung Europa
Marc Zoellner

Die Wut stand Kais Saied förmlich ins Gesicht geschrieben: Über die „anarchischen Zustände“ auf den Straßen seines Landes hatte der tunesische Präsident Ende November gewettert und die Ordnungskräfte zum dringlichen Einschreiten aufgefordert. Denn die herrschende Situation in Tunesien, so Saied zur Begründung, sei „eine der gefährlichsten seit der Unabhängigkeit“ des kleinen Mittelmeeranrainers. 

Tatsächlich sieht sich Saied im beginnenden zweiten Jahr seiner erst kurzen Amtszeit bereits vor schier unbewältigbare Herausforderungen gestellt: Die Corona-Krise trifft Tunesien mit Brachialgewalt und droht den zaghaften Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre mit einem Schlag zu vernichten. Allein seit Jahresbeginn kletterte die Arbeitslosigkeit um ganze fünf Prozentpunkte auf zwanzig Prozent. 

Das Ausbleiben von Touristenströmen macht sich gemeinsam mit dem damit verbundenen Zusammenbruch des informellen Sektors sowie der kleinen Handwerksgewerbe speziell im wirtschaftlich seit je abgehängten Süden Tunesiens bemerkbar: Zwischen Kairouan und Tataouine finden mittlerweile zwei von drei jungen Menschen keine Arbeit mehr, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Seit Wochen tragen die Tunesier ihren Unmut über die neuerliche Wirtschaftskrise mit äußerster Vehemenz auf die Straße. In Gafsa blockierten Demonstranten die Zufahrten zu den staatlichen Phosphat-Bergwerken. In den Küstenstädten besetzten Protestler die Eingänge von Banken und öffentlichen Verwaltungseinrichtungen. In der heiligen Stadt Kairouan riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik ab dem 3. Dezember aus. „Diese Regierung besitzt weder ein Konzept noch eine Vision, um den Tunesiern Hoffnung zu verschaffen; weder gesundheitlich noch sozial, noch ökonomisch, noch politisch“, berichtet die Rechtsanwältin Donia Osman, die sich unter den Demonstranten befindet. „Es gibt keinen wirklichen Plan, um die Verbreitung von Covid-19 zu bekämpfen. Und zusätzlich zeigt die Regierung keinen Willen, gegen die Korruption vorzugehen.“ 

Träume der studentischen Jugend zerplatzten

Mehrere der unlängst noch friedlich verlaufenen Demonstrationen sind mittlerweile in offene Straßenschlachten mit der Polizei eskaliert. In einem halben Dutzend Städten hat das Militär bereits Posten vor wichtigen Gebäuden und Industriekomplexen bezogen, um die „Straßen zu öffnen und die Produktion wieder zum Laufen zu bringen“, wie der tunesische Regierungschef Hichem Mechichi jüngst konstatierte. Bei Bildern wie diesem drängt sich vielen Tunesiern die Erinnerung an den Beginn des Arabischen Frühlings geradezu auf.

Denn immerhin hatte diese Revolution, die innnerhalb weniger Jahre beinahe den gesamten Nahen Osten erschütterte und autokratische Regimes kippen ließ, hier in Tunesien ihren Ursprung gefunden: Am 17. Dezember 2010 hatte sich der damals 26jährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der Kleinstadt Ben Arous, gut zwölf Kilometer von der tunesischen Hauptstadt Tunis entfernt, auf offener Straße selbst verbrannt, nachdem Polizisten seinen Verkaufswagen beschlagnahmt und den jungen Händler auf der Wache körperlich mißhandelt hatten. 

Mohameds tragischer Suizid brachte die erste Welle an Protesten hervor, an deren Ende die Abdankung des damals bereits über 23 Jahre regierenden tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali gestanden hatte. Soziale Netzwerke wie Facebook trugen maßgeblich zur viralen Verbreitung der Proteste und ihrer Forderungen nicht nur in Tunesien bei, sondern darüber hinaus auch in eine Vielzahl anderer arabischsprachiger Länder: Der „Arabische Frühling“ war geboren. Heute, am zehnten Jahrestag von Mohameds Tod, blickt der Nahe Osten auf eine Reihe von Bürgerkriegen, auf neue bündnispolitische Konstellationen, auf gravierende außenpolitische Umbrüche – sowie auf Tunesien als bislang einzigen Staat der Region, welcher aus dem „Arabischen Frühling“ als – wenn auch fragile – Demokratie hervorgegangen ist.

„Es war ein Aufstauen vieler Sachen, die ihn explodieren ließen“, erinnert sich Mohameds Schwester Leila Bouazizi zehn Jahre nach dem Suizid ihres Bruders. Um den anhaltenden Drohungen von Anhängern des alten Systems gegen ihre Familie zu entfliehen, wanderte die heute 34jährige 2013 nach Kanada aus. Sie lebt seitdem in Quebec, wo sie nach ihrem Studium in der Luftfahrtbranche untergekommen war. „Als mein Bruder seine Tat begangen hat, sind plötzlich alle mit ihm explodiert und haben gegen das System demonstriert. Jeder wollte, daß die Umstände sich ändern.“

Der Druck der Straße nahm damals rasch überhand und veranlaßte Ben Ali am 14. Januar 2011 zur Flucht nach Saudi-Arabien. Das Könighaus in Riad gewährte dem geschaßten Diktator Sicherheit vor der Auslieferung an die Strafbehörden in Tunesien, die Ben Ali sowie mehreren seiner Familienangehörigen noch im Mai 2011 wegen Unterschlagung in Milliardenhöhe, Drogenhandels und Mord den Prozeß machten. Allerdings in Abwesenheit der Ben Alis. Unbehelligt verstarb der Diktator im September vergangenen Jahres im saudi-arabischen Dschidda. Die rund drei Wochen währende Revolution in Tunesien verlief im Vergleich weitaus blutiger: Sie kostete fast 350 Demonstranten das Leben.

Von solch geringen, wenn trotz alledem auch schmerzhaften Todeszahlen konnten die Ägypter allenfalls träumen: Wie in Tunesien entstammten auch am Nil die ursprünglichen Träger der Revolution gegen den hiesigen Machthaber Hosni Mubarak, der 29 Jahre lang die Macht in Ägypten innehatte, einer liberalen, studentisch geprägten Jugend.

Am 25. Januar 2011 wagten die Ägypter ihre ersten Protestmärsche, die bis zum Freitag, dem 28. Januar – dem „Tag des Zorns“ – rasch zur Millionenbewegung anwuchsen. Als Mubarak am 11. Februar zurücktreten mußte, zählten die Behörden bereits 850 getötete Zivilisten. Auch der ägyptische Alleinherrscher plante anfangs seine Flucht nach Saudi-Arabien, scheiterte allerdings an einem Ausreiseverbot durch das eigene Militär.

Ende Januar 2011 hatte sich schließlich auch die Moslembruderschaft den Protesten angeschlossen. Bereits am 21. Februar 2011 konnten die Moslembrüder die Gründung ihrer „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (FJP) verkünden, die bereits zu den Novemberwahlen 2011 fast die Hälfte der Sitze im ägyptischen Parlament für sich reklamieren durfte. Zwischen Juni 2012 und Juli 2012 stellte die FJP, unterstützt von der radikalislamischen „Partei des Lichts“ (Al-Nour), mit Mohamed Mursi in Ägypten sogar den Präsidenten.

Tunesier, Marokkaner, Syrer suchen ihr Heil in Europa  

Als Mursi jedoch die Verfassung seines Landes zu einer islamisch-präsidialen umzubauen gedachte, gab es erneute Massenproteste; diesmal getragen von liberalen Bürgerschichten sowie der übergelaufenen radikalislamischen Al-Nour. Ägyptens Militär putschte daraufhin gegen die Mursi-Regierung und verhalf dem bis heute amtierenden Alleinherrscher Abd al-Fatah as-Sisi zur Machtübernahme. Bis 2011 war dieser Mubaraks militärischer Geheimdienstchef. 

Für as-Sisi ist der Arabische Frühling seitdem zumindest in Ägypten beendet: Bei der Präsidentschaftswahl vom März 2018 ließ er sich mit 97 Prozent der Stimmen im Amt bestätigen. Seit ihrem Sturz wurden über führende Mitglieder der Moslembruderschaft Hunderte Todesurteile zum Teil in Massenverhandlungen gefällt. Abgesehen vom beinahe kompletten Zusammenbruch des Tourismus steht Ägypten wieder dort, wo es vor zehn Jahren begann: zum Leidwesen der Demokratiebewegung sowie der jungen Bevölkerungsanteile, die ihr Heil seit 2015 immer öfter auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer nach Europa suchen.

Ähnlich verhält es sich im Königreich Marokko. Auch hier kam es am 20. Februar 2011, der den Namen „Tag der Würde“ trug, zu blutigen Protesten. Als Reaktion versprach König Mohammed VI. eine Verfassungsreform und vorgezogene Neuwahlen. Viel hat sich seitdem nicht geändert. Entsprechend hoch sind auch hier die Auswanderungszahlen. 

Im Gespräch mit der spanischen Zeitung El País platzte der EU-Innenkommissarin für Inneres, Ylva Johannson, der Kragen. Etwa 50 Prozent derjenigen, die jetzt auf den Kanaren ankämen, seien Marokkaner. Und die meisten von ihnen seien keine Flüchtlinge. Entsprechend  hätten sie nicht das Recht zu bleiben. „Sie müssen zurück nach Marokko“, so die Schwedin, die das Königreich als „zuverlässigen Partner“ bezeichnet, dem die EU seit 2018 343 Millionen Euro an Hilfe gezahlt habe – insbesondere für die „Ausbildung seiner Polizei“.

Es sind die Bürgerkriege in Syrien und in Libyen, die seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings besonders ins Licht der Öffentlichkeit gerückt waren: In letzterem gelang der Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi, der in den Vorjahrzehnten mehrfach die libyschen Nachbarstaaten Ägypten und Tschad mit Angriffskriegen überzogen hatte, auf Kosten der Spaltung Libyens in zwei scheinbar unversöhnliche Landesteile: Im Westen Libyens dominiert die international anerkannte „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA), die militärisch von der Türkei unterstützt wird. Im Osten wiederum halten sich der Armeegeneral Chalifa Haftar sowie das Libysche Parlament mit Sitz in Tobruk mit Unterstützung Ägyptens sowie Rußlands. 

Seit gut einem Jahr wird – teilweise bereits erfolgreich – um einen Ausgleichsfrieden beider Parteien verhandelt. Nach anfänglich schweren Niederlagen im Bürgerkrieg gegen die unzufriedene Zivilbevölkerung auf der einen sowie radikalislamische Terrorgruppen auf der anderen Seite gelang es dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad wiederum, große Teile seines Landes erneut unter Kontrolle zu bekommen.

 Unter unvorstellbaren Verlusten: Etwa ein Drittel der Syrer, alles in allem über sechs Millionen Menschen, floh seit der Niederschlagung der ersten Proteste vom Februar 2011 außer Landes, weitere sieben Millionen mußten innerhalb der Landesgrenzen fliehen. Bislang zählt der Bürgerkrieg gut eine halbe Million Tote und ist mittlerweile zum Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei, Rußland und dem Iran abgeglitten.

Altes Machtgefüge ist ins Wanken geraten

Entwicklungen wie in Syrien oder auch im Jemen, wo der geglückten Revolution gegen den damaligen Machthaber Ali Abdullah Saleh sowie der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Revolutionsführerin Tawakkol Karman ein bis heute währender Bürgerkrieg sowie die größte Hungersnot des 21. Jahrhunderts folgte, bestimmen maßgeblich den im Westen gewonnenen Eindruck vom umfassenden Scheitern des Arabischen Frühlings. 

Doch ohne die „Arabellion“, zeigen sich Analysten zum zehnten Jahrestag der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis einig, wäre es wohl nie zu den Umbrüchen im Machtgefüge des Nahen Ostens gekommen, die Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate aus den Schatten ihrer militärisch gewichtigen Nachbarn Ägypten, Syrien, Iran und Irak treten und zu eigenständigen Akteuren werden ließen.

„Die Schwächung der traditionellen arabischen Machtzentren während des Arabischen Frühlings hat die Golfstaaten zum ersten Mal in der modernen Geschichte zum Machtzentrum Arabiens transformiert“, zeigt sich zumindest Bader al-Saif, Geschichtsprofessor an der Universität von Kuwait, sicher. Ohne die Arabellion wäre nicht nur der regionale Aufstieg der Petromonarchien, sondern ebenso deren kürzliche Versöhnung mit dem ehemaligen Todfeind Israel nicht möglich gewesen. 

Gänzlich abgeschlossen ist der Arabische Frühling auch im zehnten Jahr seines Wirkens noch nicht: Im vormals abgeschotteten Sudan reift derzeit eine neue, von der Jugend getragene Demokratie heran. Und auch in Tunesien wird der Wille der jungen Generation nach Besserung ihrer Lebensumstände noch einige Umwälzungen bewirken. „Viele Menschen haben ihr Leben verloren“, erklärt Leila Bouazizi,  Schwester des Initiators des Arabischen Frühlings, verhalten optimistisch. „Doch ich hoffe, daß die Dinge sich ändern werden. Vielleicht dauert es noch einmal zehn Jahre. Aber die jungen Leute müssen mit ihren Protesten fortfahren, um endlich ihre Rechte zu bekommen.“