© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Die Rückkehr des Narren
Protest und Kritik: Die Wiederkehr eines mittelalterlichen Archetyps verdeutlicht eine Refeudalisierung der Bundesrepublik
Konstantin Fechter

In der spätmittelalterlichen Moralsatire „Das Narrenschiff“ läßt der Verfasser Sebastian Brant ein Schiff mit einer Besatzung von 109 Narren über die Meere ziehen. Ziel dieser grotesken Fahrt ist der imaginäre Kontinent Narragonien, den die selbsternannten Seemänner in Eigenregie zu finden erhoffen. An Bord befinden sich weder Kapitän noch Steuermann oder eine andere Autorität, die dem bizarren Treiben Einhalt gebietet. Die Besatzung ist dafür reichlich mit Spiegeln, Kappen und Schellen, den närrischen Attributen ausgestattet. Ohne nautischen und moralischen Kompaß treibt das Narrenschiff orientierungslos durch die See, ob es sein Ziel jemals erreicht, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich sucht die närrische Besatzung noch heute nach ihm. 

Im Mittelalter war die Figur des Narren mehr als nur ein harmloser Sprücheklopfer, sondern eine beunruhigende Erscheinung. Er stand außerhalb der ständischen Ordnung, verkehrte mit den Huren, Henkern und Aussätzigen. Sein verdrehter Geist fand oft Verkörperung in einer verkrüppelten oder kleinwüchsigen Gestalt. Schon im Alten Testament verhöhnt er König David: „Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“ Er ist nicht nur unbelehrbar, sondern auch ungläubig, was ihn näher an den Teufel als an den rechtschaffenen Menschen rückt und gefährlich macht. Der Humanist Brant nutzt in seiner Moralschrift den Vorwurf der sittlichen Defizienz, um durch das Fehlverhalten der Narren eine Antithese zu ethisch integrem Verhalten darzustellen.

Aufgrund seiner Amoralität und geistigen Umnachtung wurde dem Toren jedoch auch eine vermittelnde Funktion zwischen Sinn und Unsinn zugestanden. Nur er besaß die sprichwörtliche Narrenfreiheit, zu tun und zu sagen, was er wollte. Außerhalb der Standesordnung befindlich, gab es für ihn wenig Konsequenzen zu fürchten. Er hatte nichts, weder Rang noch Familie oder Einkommen, durch das sich gegen ihn Druck ausüben ließ. Je willkürlicher der Tyrann und brutaler seine Unterdrückung der Untertanen, desto wichtiger war der Hofnarr, welcher als einziger noch eine spielerische Kritik vortragen konnte. Seine Duldung verdeutlichte jedoch zugleich auch die eigentliche Machtlosigkeit des Narren. Man konnte ihn gewähren lassen, da er keine Bedrohung für die herrschenden Verhältnisse darstellte, selbst wenn er die Wahrheit sprach.

Beobachtet man die schillernden Protestzüge gegen die bundesrepublikanische Corona-Politik der letzten Monate, so bleibt selbst der aufgeschlossene Betrachter mit einem Stirnrunzeln zurück. Abseits der berechtigten Sorgen um Grundrechte und finanziellen Existenzängste von Selbstständigen haben sich wirre und bisweilen bizarre Widerspruchsallianzen ergeben, die diese fundamentaloppositionellen Prozessionen zu einem wahren Spektakel werden lassen. Verwelkte Blumenkinder lassen Seifenblasen und Friedenstauben über Holocaustleugnern steigen, während Internet-Prediger vor dem Einfluß dunkler Mächte warnen. Wissenschaft und Medizin werden nicht mehr als Ausdruck von Fortschritt aufgefaßt, sondern als okkulte Praktik zum Schaden der Menschen gedeutet. Es ist eine fiebrige Stimmung, beseelt von der Verkündung einer baldigen Endzeit.

Diese diffuse Gemengelage aus Verschwörungstheorien, sozialer Frustration und Abkehr von jeder Rationalität befremdet. Beeindruckend ist hingegen, mit welcher Selbstverständlichkeit und welchem Selbstbewußtsein noch die abstrusesten Ideen verbreitet werden, bestärkt durch das eifrig zustimmende Nicken vorbeiströmender Zeloten. In früheren Zeiten nannte man so ein Treiben Narretei.

Warum aber ersetzt der Narrenzug, diese Ansammlung an selbst für kritische Geister nicht mehr nachvollziehbaren Vorwürfen, Gerüchten und Wahnvorstellungen den legitimen politischen Protest, der dieser Tage berechtigter und nötiger denn je wäre?

Es scheint, als sei im 21. Jahrhundert mit dem Narren eine prämoderne Figur zurückgekehrt, deren Funktion durch die Neuzeit eigentlich überflüssig geworden war. In der Theorie des aufgeklärten Idealstaats bedarf es keiner Randgestalten als Wahrheitsverkünder mehr, da jeder legitimiert ist, öffentlich und unbeschadet seine Meinung zu vertreten. Die Wiederkehr bestimmter Archetypen sollte daher mit großer Aufmerksamkeit bedacht werden und nicht mit medialem Verhöhnen, kündigt sie doch gesellschaftliche Veränderungen an.

Die Rückkehr der Narren gewährt einen Einblick in die Seele der Berliner Republik und veranschaulicht als Symptom die psychopathologische Verfassung der sie prägenden postkulturellen Mentalität. Auf den Bildersturm gegen die Säulen des Abendlandes folgt eine große Konfusion, welche die letzten Europäer ohne Halt in metaphysischer Obdachlosigkeit zurückläßt. Aus diesem gesamtgesellschaftlichen Sinnentzug resultiert die Neigung zur Apophänie, dem wahnhaften Erkennenwollen von Mustern und Plänen, dort wo eigentlich nichts ist. So weigert sich der Verstand mancher europäischen Epigonen, in der lustlosen Aufgabe der bisherigen Ordnung lediglich die Laune zweier Nachkriegsgenerationen zu sehen. Er sehnt sich nach einer Erklärung für die Tragödie und sucht nach jemandem, der die Verantwortung an diesem Fall trägt. Dadurch prosperieren aberwitzige Theorien über geheime Verschwörungen, da sie wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auf den fruchtbaren Boden großer Verunsicherung und Demütigung fallen. Das philosophische Vakuum, welches durch die Zumutungen einer orientierungslosen Postmoderne entstanden ist, kann durch jedes Hirngespinst gefüllt werden, solange dieses nur mit Leidenschaft vorgetragen wird. Die Wiedergewinnung des Sinns durch puren Unsinn entfacht eine berauschende Ekstase, die auf das Entschlüsseln dieser scheinbaren Geheimnisse des Universums folgt.

Ihr Gegenstück findet sich auf der anderen Seite der Absperrungen im immer stärker ausgebauten Denunzianten- und Spitzeltum des bundesrepublikanischen Antifaschismus. Hier wie dort belauern sich Phantomjäger, die zwanghaft an ihre vermeintlich gerechte Sache glauben müssen, um irgendeinen Halt in der großen Konfusion zu finden. So treiben zwei Narrenschiffe mit voller Geschwindigkeit aufeinander zu.

Es spielt dabei keinerlei Rolle, wie konkret die eigentliche Gefahr durch Bilderberger, Impfungen oder Neofaschismus wirklich ist. Allein, daß die Prämissen, die maßgeblich zur Verschärfung der innergesellschaftlichen Spannungen beitragen, auf politischem Aberglauben beruhen, ist ein beunruhigendes Zeichen. Es zeugt davon, wie eine Bürgerschaft auseinanderfällt und auf keinen gemeinsamen Nenner mehr gebracht werden kann. Vielmehr beginnen sich ihre Teile durch diesen irrationalen Partikularismus zu verselbstständigen und getrennte Milieus mit eigenständigen Narrativen und Wahrheiten zu bilden.

Neben dieser metaphysischen Problematik existiert jedoch zeitgleich die kalkulierte Machtpolitik der Alternativlosigkeit. Daß sich Demonstrationen zum Narrenreigen wandeln, deutet auch auf eine Refeudalisierung der Bundesrepublik hin. Politische Partizipation wird wieder Teil von Standesprivilegien und damit ein Recht, das beliebig gewährt und entzogen werden kann. Wer jenseits dieser fest verteilten Rollenverteilung die Stimme erhebt und gegen die Hofetikette des Sagbaren und zu Beschweigenden verstößt, der stellt sich durch seine Anmaßung außerhalb der Ordnung.

Es ist daher schon lange nicht mehr das Bürgertum, das auf die Straßen geht, um sich politisch zu artikulieren. Dieses wurde entweder als Mandarine in gut dotierte Hofämter befördert und am Beutewert des Staates beteiligt oder aber durch soziale Repression so eingeschüchtert, daß kein Wille zum Widerstand gegen eine immer herrischer auftretende Regierung mehr vorhanden ist.

Der alternativlose Politikstil duldet keinen seriösen Widerspruch, da dieser ihn schnell als Schimäre entlarven würde. Insofern ist er darauf bedacht, jeden Kritiker als unzurechnungsfähig zu delegitimieren. Denn wer im besten Deutschland aller Zeiten nicht zufrieden ist, der kann nur ein gefährlicher Irrer sein. Seinem ansteckenden Wahnsinn kann nicht anders als mit sozialer Quarantäne begegnet werden. Reden läßt man ihn bisweilen noch, um allen anderen zu zeigen, zu welchem bemitleidenswerten Zustand ein solch überhitzter Geist letztendlich führt.

In den sozialen Medien lassen sich ganze Sammlungen über die närrischen Weisheiten der Querdenker finden, die dort der Belustigung wie Abschreckung zugleich dienen. Für gemäßigte Naturen ist dies ein abstoßendes Schicksal und keinesfalls erstrebenswert. Aus der Deckung wagt sich nur noch, wer nichts mehr zu verlieren hat. Denn der Narr ist nicht zu brechen. Die ungeheuerliche Repression gegen Widerständige in Form von sozialer Schikane jeder Art erträgt nur noch, wer eine andere Vorstellung von Realität zu besitzen scheint. Dadurch wird der Wahn des Narren nicht mehr wie im Mittelalter ein Korrektiv zur Politik, sondern Grundlage eines Massenphänomens und Lebensgefühl der politisch Ausgestoßenen.

Der Narrenzug wächst, je länger er durch die Straßen zieht, und in das höhnische Gelächter aus den bundesrepublikanischen Elfenbeintürmen mischt sich langsam eine Spur von Furcht. Vielleicht erinnert man sich dort an die Geschichte über den Hofnarren Hopp Frosch von Edgar Allen Poe. In dieser rächt sich ein Zwerg für die erlittenen Demütigungen durch den Hofstaat, indem er dem König und seinen Ministern beim Maskenball zu einer Verkleidung als Orang-Utans rät. Anschließend steckt er die maskierten Männer vor dem versammelten Hof in Brand und flieht.

Wirkliche Opposition aber wird durch ihr Abdrängen und Abgleiten auf das Narrenschiff immer schwieriger. Der närrische Reigen der Gescheiterten stellt keine politische Alternative jenseits der Unmutsartikulation dar. Schon in der mittelalterlichen Darstellung trug der Tor die Marotte bei sich, eine Puppe mit seinem eigenen Konterfei, die symbolisierte, daß er sich letztendlich nur um sich selbst dreht. Das bringt die ernsthaften Kritiker der derzeitigen Zustände in eine verfahrene Situation. Sie haben die Wahl zwischen weiterem Stillschweigen oder dem Anschluß an den Tanz und die damit verbundene Narrenkappe. Dadurch delegitimieren sie jedoch ihr Ansinnen und degradieren sich zur Witzfigur, indem sie sich argumentativ selbst entwaffnen.

Wer aber aus Verzweiflung über fehlende Handlungsmöglichkeiten mit der Selbstvernarrung sympathisiert, der setzt auf den Wahn als Verbündeten und erreicht damit genau das Ziel der Neofeudalherren. Er sei an die Schachvariante „Spiel des Narren“ erinnert. In dieser operiert der Narr als Spielfigur mit den Zugmöglichkeiten von Turm, Läufer und Springer in einem. Andere Figuren auf dem Brett kann er jedoch nicht schlagen. Seine Beinfreiheit und den enormen Aktionsradius bezahlt er letztendlich mit völliger Wirkungslosigkeit.