© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Beschleunigter Lebensstil – Weimars „neue Frauen“
Feminismus und Fordismus
(wm)

Sabina Becker, Professorin für Neuere Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte in Freiburg, ist so entzückt vom Feminismus und dem neuen Frauentyp der Weimarer Republik, daß sie in ihrem Essay „Verhaltenslehren der Emanzipation“ ins Schwärmen gerät (Zeitschrift für Ideengeschichte, 4/2020). Die Vorbilder für die „Neue Frau“ stammten aus den USA und der Sowjetunion und hätten die noch bis 1914 einer „höherwertigen männlichen Geisteskultur“ zugeschriebenen mentalen Komponenten geradezu marginalisiert: das Unpolitische, Nationale, Seelenvolle, Innerliche. Die Hinwendung der „neuen Frauen“ zur „Sachlichkeitskultur der 20er Jahre“ habe wesentlich dazu beigetragen, solche „jahrhundertealten kulturellen Stereotypen“ außer Kurs zu setzen. Denn versachtlichte Ausdrucksweisen und sachlicher Habitus boten Frauen die Chance, traditionelle Rollen abzustreifen, Positionen einer „neuen Feminität“ zu beziehen, die sich von der Berufstätigkeit bis zur Frisur („Bubikopf“) erstreckten. Becker untermauert diesen Befund mit Biographien „höherer Töchter“ wie Erika Mann oder Clärenore Stinnes, deren Vater der Großindustrielle Hugo Stinnes war. Beide gaben sich als schreibende Globetrotterinnen dem „beschleunigten Lebensstil“ hin. Daß der Feminismus dieser wenig repräsentativen Reklamegirls für das in den kapitalistischen USA wie in der sozialistischen UdSSR systemübergreifend herrschende Gesellschaftsmodell des von „beschleunigter“ Fließbandproduktion geprägten „Fordismus“ warb, das aus der Sicht Weimarer Kulturkritiker jegliche humane Ordnung bedrohte – darauf kommt die wirtschaftshistorisch ignorante Professorin Becker nicht. 


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