© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Aus Deutschlehrern werden Medienexperten
Seher verdrängen Leser
(dg)

Als Bertolt Brecht 1931 schrieb, „der Filmsehende liest Erzählungen anders“, war der Hunger der Filmindustrie nach literarischen Erzählstoffen bereits gewaltig. Gerade hatte sie seine und Kurt Weills „Dreigroschenoper“ mit gesundem Appetit verspeist. Heute, so resümiert die Sprachdidaktikerin Elvira Topalovic (Paderborn) ihre Studie über das „Digitale Lesen“, sei die Verschränkung von Literatur und Film, ob Kino, TV oder Internet, Normalität (Der Deutschunterricht, 5-2020). Das Romanschreiben und -verlegen für die internationalen Märkte erfolge entweder direkt in Hinblick auf die Verfilmbarkeit („Harry Potter“), oder die weltliterarischen Ressourcen würden verstärkt ausgebeutet und hätten erst nach ihrer (Wieder-)Verfilmung überhaupt eine Chance, gelesen zu werden („Herr der Ringe“, „Der große Gatsby“). In jedem Fall gehe der Trend zur Mehrfachverwertung auf Datenträgern, im TV oder durch Streamingdienste. Was dazu führe, daß Deutschlehrer, die ursprünglich den Auftrag haben, Schüler zum Lesen zu erziehen, es immer häufiger mit Sehern und Seherinnen zu tun hätten. Das Sehen sei aber eine so intensive wie emotionale, nicht primär kognitive Erfahrung auf Erlebnisebene. Um die Formen des zu Sehenden im Unterricht zu verbalisieren und kritisch zu diskutieren, dazu müßten Lehrer zunächst medien- und bildwissenschaftliche Kompetenz erwerben, um sie an die von Lesern zu Sehern mutierten Schüler weitergeben zu können. Wobei soziokulturelle Prägemuster („Vorurteile“), die die „Weltdarstellung“ formen und manipulieren, in verfilmter Literatur für Schüler schwerer zu erkennen seien als in gelesener. 


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