© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

Das Regime setzt sich die Maske auf
Belletristik: In Volker Kutschers „Olympia“ wirkt die historische Atmosphäre wenig ausgefeilt
Karlheinz Weißmann

Der Titel „Olympia“ des achten Romans der Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher ist doppeldeutig. Natürlich hat er mit den Olympischen Spielen in Berlin 1936 zu tun, dem Hintergrund des Geschehens, doch er bezieht sich auch auf den Namen einer Amerikanerin, der Witwe des ersten Mordopfers, um das es geht. Aber weder dem einen noch dem anderen Sachverhalt kommt besonderes Gewicht zu.

Denn die von Volker Kutscher entwickelten Ereignisse konzentrieren sich im Grunde auf die Frage, ob, und wenn ja wie, ein Kriminalbeamter seinen Beruf versehen konnte, der sich in das System eingebunden sah, das durch die  Verquickung von SS, dem parteieigenen Geheimdienst SD, der ursprünglich auf Preußen beschränkten Gestapo und den regulären Polizeikräften entstand. Schließlich war 1936 nicht nur das Jahr, in dem das NS-Regime sich eine Maske aufsetzte, um die Welt von seiner Harmlosigkeit und Normalität zu überzeugen, sondern auch das Jahr, in dem Heinrich Himmler zum „Chef der Deutschen Polizei“ ernannt wurde und darangehen konnte, aufzubauen, was man cum grano salis als „SS-Staat“ bezeichnet.

Hinter den Kulissen der „Volksgemeinschaft“

Daß Rath in diesem Band zum Spielball verschiedener Institutionen und einzelner Funktionsträger wird, hat allerdings auch damit zu tun, daß er durch seine früheren Operationen, die ihn mehrfach über Legalitätsgrenzen führten, angreifbar geworden ist. Hinzu kommt der Verdacht politischer Unzuverlässigkeit. Die hatte ihn und seine Frau Charlotte „Charly“ am Ende des im Spätsommer 1935 spielenden vorangegangenen Bandes – „Marlow“ – die Pflegschaft für ihren Ziehsohn Fritz „Fritze“ Thormann gekostet. Fritze war an eine Funktionärsfamilie übergeben worden, was ihn anfangs mit Begeisterung, dann mit wachsendem Unbehagen erfüllte. Er lernt, hinter die Kulissen der „Volksgemeinschaft“ zu schauen und erkennt immer stärker den Abstand zwischen brauner Propaganda und brauner Wirklichkeit.

In „Olympia“ spielt Fritze schon deshalb eine entscheidende Rolle, weil er als Angehöriger des „Jugend-ehrendienstes“ der HJ im Olympischen Dorf Zeuge mehrerer Morde wird. Die Art und Weise, wie die folgenden Ermittlungen behindert und manipuliert werden, nähren in ihm das Mißtrauen gegenüber dem bisher bewunderten Regime. Hinzu kommt noch seine Verehrung für die schwarzen Leichtathleten – insbesondere den amerikanischen Läufer Jesse Owens –, die ihn immer stärker an der offiziellen Rassenideologie zweifeln läßt.

Die Passagen, in denen Kutscher deutlich macht, wie das „gespaltene Bewußtsein“ (Hans Dieter Schäfer) der Durchschnittsdeutschen während der Friedensjahre des Regimes arbeitete, sind allerdings eine Ausnahme. Verglichen mit den früheren Bänden hat man nicht mehr den Eindruck, daß der Autor interessiert ist, in die Atmosphäre der Vergangenheit einzutauchen, die Alltagsmotive und die Jedermannssorgen der Zeitgenossen verständlich zu machen. Das Szenario wirkt weniger ausgefeilt, die Personen schablonenhafter.

Der Autor will noch bis ins Jahr 1938 erzählen

Das gilt auch für Charly, die immer weniger als denkbare Person und immer stärker als symbolische Lichtgestalt erscheint. Zwangsweise aus dem Polizeidienst entfernt und als Frau nicht zum Jurastudium zugelassen, arbeitet sie nach außen für eine Privatdetektei, konzentriert sich aber in erster Linie darauf, Gefährdeten falsche Papiere zu beschaffen, um ihnen die Ausreise zu ermöglichen. Als „demokratische Preußin“ ist sie das, was die Männer in ihrem Umfeld nicht sind: integer, mutig, selbstlos und sogar bereit, alles aufzugeben, um ihren Überzeugungen treu bleiben zu können.

Diese Zeichnung ihrer Figur entspricht zwar den Vorgaben des heutigen Zeitgeistes. Nur plausibler wird sie dadurch nicht. Eine Schwäche, die Kutscher wohl kaum als solche erscheint. Denn wie man einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung entnehmen kann, das er kurz vor Erscheinen von „Olympia“ gegeben hat, plant er einen letzten Band der Gereon-Rath-Reihe, der noch stärker an einer politisch-pädagogischen Linie ausgerichtet sein soll als „Olympia“: „Ich möchte bis 1938 erzählen … In diesem Jahr wird mit der Pogromnacht und den außenpolitischen Entwicklungen allen klar, daß es in Richtung Holocaust und Krieg geht.“

Man kann nur hoffen, daß Volker Kutscher bis zum Abschluß des Manuskriptes noch einiges an Recherche leistet, auf daß ihm klar wird, daß 1938 keineswegs „allen klar“ war, wohin die Reise ging, und das – den Horizont der Zeitgenossen vorausgesetzt – auch kaum verlangt werden konnte.

Volker Kutscher: Olympia. Der achte Rath-Roman, Piper, München 2020, gebunden, 544 Seiten, 24 Euro