© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/20 / 18. Dezember 2020

„Pragmatischer Paternalismus“
Ein Rückblick auf die Geschichte der Schutzimpfung / Eine Impfpflicht kann jederzeit eingeführt werden
Dieter Menke

Beim westlichen Impfstoffrennen kam die deutsch-amerikanische Allianz Biontech/Pfizer knapp vor Moderna/Niaid („Operation Warp Speed“ von Donald Trump) durchs Ziel. Bei der offiziellen Corona-Impfung waren die Briten schneller: Am 8. Dezember erhielt die 90jährige Engländerin Margaret Keenan in der Uniklink Coventry die erste offizielle Biontech-Dosis gegen Covid-19. Das mag dem Brexit-Premier und einstigen Corona-Patienten Boris Johnson zu verdanken sein – aber Mediziner überrascht das nicht: Die erste Schutzimpfung gegen eine Infektionskrankheit war die Kuhpockenimpfung, durchgeführt am 14. Mai 1796 vom englischen Landarzt Edward Jenner.

Impfscheine für Schule, Arbeit und Militär

Kuhpocken verursachten beim Menschen lokale, selbst ausheilende Infektionen, konnten aber Immunität gegen die gefährlichen Blattern beim Menschen verleihen. Darum impfte Jenner den achtjährigen James Phipps mit einer Kuhpockenpustel. Wie erwartet, bekam der kleine Gärtnersohn Fieber, das schnell abklang. Sechs Wochen später wagte es Jenner, ihn mit Menschenpocken zu infizieren. Das riskante Experiment gelang, der Junge erkrankte nicht an den gefürchteten Blattern.

Das Grundprinzip jeder Schutzimpfung war seit Jahrhunderten bekannt, allerdings in Europa bis zum frühen 18. Jahrhundert wieder in Vergessenheit geraten, wie der Historiker Robert Jütte (Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung/Stuttgart) in seiner Geschichte der Schutzimpfung darlegt (Aus Politik und Zeitgeschichte, 46-47/20). In Deutschland machte Bayern 1807 den Anfang – und zwar zugleich mit der Einführung eines rigiden Impfzwangs, nachdem ein Appell von König Maximilian I. Joseph, sich gegen Pocken impfen zu lassen, kaum Widerhall im Volk gefunden hatte. Per Gesetz, das bestimmte, alle Dreijährigen, die noch nie an Pocken erkrankt waren, seien bis zum 1. Juli 1808 zu impfen, lief es dann besser – weil für jedes ungeimpfte Kind eine saftige Geldbuße zu zahlen war.

Die meisten deutschen Staaten folgten dem bayerischen Vorbild, nur Sachsen, Hamburg und der ansonsten gesundheitspolitische Musterstaat Preußen verzichteten bis 1870 auf eine gesetzliche Regelung. Preußen übte jedoch anders Druck aus: Nur wer einen Impfschein vorweisen konnte, durfte die Schule besuchen und eine Ausbildung beginnen. Die Lage änderte sich mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, der eine Pockenepidemie auslöste, die Hunderttausende Todesopfer kostete. Trotz des heftigen Widerstands gut organisierter Impfgegner erhielt das neugegründete Deutsche Reich 1874 ein Reichsimpfgesetz, das Pflichtimpfungen schon im Säuglingsalter verfügte.

Gleichwohl hielt der Streit darüber, ob der „Vorsorgestaat“ ein Recht habe, seine Bürger gesetzlich zur Impfung zu zwingen, bis in die Weimarer Republik hinein an. Die Fronten verliefen dabei quer durch die Parteien. Aber jenseits der aufgeheizten Debatten war die von einer Mehrheit akzeptierte Impfpraxis durch einen „pragmatischen Paternalismus“ geprägt: Es bestand Impfzwang, der Staat setzte ihn jedoch nicht rigoros durch, so Jütte. Das änderte sich auch nach 1933 nicht. Das NS-Regime tolerierte Impfkritik – mit Ausnahme der Wehrmacht – und steuerte weiter den bewährten pragmatischen Impfkurs.

Davon wich auch die DDR nicht ab, die ebenso keine „Biodiktatur“ gewesen sei – auch wenn der SED-Staat sich international mit Erfolgen staatlicher Präventionsmaßnahmen wie der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung brüstete. Die Bundesrepublik schaffte 1983 alle gesetzlichen Zwangsimpfungen ab. Das Ende dieser „liberale Wende“ läutete im wiedervereinigten Deutschland bereits das Infektionsschutzgesetz von 2001 ein, wonach eine Impfpflicht „jederzeit“ wieder eingeführt werden könnte. Dieser Zeitpunkt kam im November 2019, als eine einfache Rechtsverordnung eine bundesweite Impfpflicht an allen Schulen, Kindertagesstätten und Flüchtlingsunterkünften verfügte.

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