© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

„Weihnachten ist eine Herausforderung“
Droht das Lieblingsfest der Deutschen durch Virusangst und Lockdown zum Krisenfall zu werden? Die Therapeutin Gabriele Baring mahnt, die psychosozialen Gefahren für Alleinstehende und Familien nicht zu unterschätzen – aber auch nicht unsere Fähigkeit, sie zu meistern
Moritz Schwarz

Frau Baring, wie verbringen Sie das Weihnachtsfest?

Gabriele Baring: Wie für so viele ist auch unser Fest diesmal ganz anders. Allein der Mann meiner Tochter hat drei Brüder mit Familien. Sie können sich vorstellen, wie viele Personen da in der Regel in anderen Jahren zusammenkommen. Wir haben entschieden, daß meine Tochter mit Mann und Sohn den Heiligen Abend mit mir verbringt. Ich bin froh, denn Weihnachten mit meinem dreijährigen Schmuseenkel feiern zu dürfen ist herrlich.

Ausgerechnet Ihr Enkel beklagt, nicht in die Kirche gehen zu können. Mit drei Jahren? 

Baring: Es ist erstaunlich, aber er mag Kirchen. Kommen wir an einer vorbei, will er unbedingt rein. Sakrale Räume faszinieren ihn. Nun, er ist eben Arnulf Barings Enkel. 

In den Medien ist von diesem Weihnachten als einer „Herausforderung“ die Rede. Aber ist das nicht zu hoch gegriffen – von einer Branche, die ja schon „Schneechaos“ titelt, wenn es im Winter mal schneit?

Baring: Meine Familie betrachtet das Ganze eher „entspannt“ – es ist, wie es ist. Pandemien gehören zur Geschichte der Menschheit. Aber, Herr Schwarz, wir dürfen nicht nur uns vor Augen haben. Hier kommt auch meine Erfahrung als Therapeutin ins Spiel: Natürlich gibt es viele, die dieses Weihnachtsfest vor schwierige Entscheidungen stellt. Etwa wenn jemand seit zwanzig Jahren immer mit seinen Kindern feiert, sich nun aber für ein Kind entscheiden muß: Das kann leicht zu Kränkungen führen. Oder man hat keine eigene Familie und feiert immer mit den Eltern – was in diesem Jahr aber vielleicht nicht geht. Das kann sehr weh tun. Oder man zwingt sich sicherheitshalber, auf gemeinsame Weihnachten zu verzichten – muß aber fürchten, es könnte das letzte Weihnachtsfest der Eltern sein. Als meine Tochter 32 wurde, war ich in Quarantäne, saß isoliert in der Wohnung nebenan, durfte nicht mitfeiern. Das war nicht einfach. Schlimmer noch, als mein Sohn in Chile 30 wurde, dort war monatelang Ausgangssperre. Es hat mich todunglücklich gemacht, gerade zu diesem Geburtstag nicht bei ihm sein zu dürfen. 

Mal heißt es, das Schlimme sei, daß die Familien nicht zusammenkommen können. Dann wieder, gerade das „Aufeinanderhocken“ sei das Problem. Was gilt denn nun?

Baring: Beides. Weihnachten ist in jedem Jahr eine Herausforderung für Familien. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser herrscht während der Feiertage regelmäßig Hochbetrieb, auch Festnahmen durch die Polizei sind keine Seltenheit. In fast jeder Familie gibt es Streitpunkte. Ich habe Fälle in meiner Praxis, da dürfen erwachsene Kinder ihre Partner oder engsten Freunde zum Fest nicht mit zu den Eltern bringen. Unterschiedliche Weltanschauungen, Befindlichkeiten und unterschwellige Spannungen prallen da aufeinander. Und Corona kann zusätzliche Konflikte auslösen: Vielleicht ist ein Familienmitglied bei dem Thema ganz entspannt – oder leichtfertig, je nachdem wie man es sieht. Ein anderes dagegen ist sehr vorsichtig – andere würden es ängstlich nennen. Schnell kann daraus an den Feiertagen eine Eskalation entstehen. Oder der Konflikt bricht schon vorher aus: Da werden Großeltern als „Gefährder“ ausgeladen, weil sie im Vorfeld nach Meinung ihres Sohnes, der zu den „Vorerkrankten“ zählt, „unvorsichtigen“ Kontakt zu Enkeln und Urenkeln – den Kindern seiner Schwester – gehabt haben. Oma und Opa halten das aber für übertrieben, während die Ausladung sie äußerst verletzt. 

Wegen solcher Konflikte bieten zum Beispiel Sie Seminare wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ an.

Baring: Es gibt ein erhebliches Bedürfnis zu verstehen, warum es „bei uns in der Familie nicht richtig funktioniert“ – also woher die immer gleichen destruktiven Dynamiken rühren, die sich stets wiederholen.  

Was ist also die Familie: Teil des Problems, weil sie der Lockdown-Lage noch Konflikte hinzufügt? Oder ist sie Teil der Lösung, da sie in der Krise Rückhalt bietet?

Baring: Beides. Familie ist weder Himmel noch Hölle. An seine Nachkommen gerichtet formulierte der Großvater von Udo Jürgens, Heinrich Bockelmann, es so: „Eine Familie ist wie ein Baum, im Erdreich verankert durch ein Geflecht von starken und schwachen Wurzeln, die sich in seinem Stamm vereinen und in den dem Himmel zugewandten, nach oben strebenden Ästen und Zweigen ihr Spiegelbild finden. Jeder ein Teil des Ganzen, aber nur gemeinsam das Wunderwerk, das Wind und Wetter und auch der Zeit trotzt. Nur wer die Stärken und die  Schwächen des Ganzen kennt, wird kraftvoll in seiner Zeit stehen.“ Im besten Falle lernen wir in der Familie, Unterschiede respektvoll zu tolerieren und mit Konflikten umzugehen. Alle, auch die als problematisch empfundenen Familienmitglieder, gehören dazu.

Liegt das mangelnde Verständnis dafür, daß Familien unter den Corona-Auflagen besonders leiden, vielleicht auch daran, daß wir eine sogenannte Singlegesellschaft sind? Der Anteil Alleinstehender (42 Prozent) und endgültig kinderloser Frauen (21 Prozent) ist hoch und steigt stetig.

Baring: Das mag sein. Kinderlose können sich zuweilen nur schwer vorstellen, wie tief die Bindung zu Kindern ist und was es bedeuten kann, auf sie verzichten zu müssen, besonders an Weihnachten. Das habe ich an mir selbst erfahren. 

Inwiefern?

Baring: Ich wurde mit 34 Mutter und hatte keine Ahnung, wie sehr es einen verändert, ein Kind zu bekommen. Für meine damaligen Ansichten schäme ich mich heute.

Die waren?

Baring: Ich war ohne Empathie und Frauen mit Kindern gegenüber eher hochmütig: Die waren ja „nur“ Hausfrau, „nur“ Mutter. Ich war voll „auf Beruf“ getrimmt: Volkswirtin, zunächst bei einer Bank, dann Redakteurin bei Merian. Auf Frauen ohne Karrieren blickte ich herab. Es war eine dümmliche und unreife Haltung, vielleicht auch von Neid geprägt. 

In 17,6 der 41,5 Millionen deutschen Haushalte lebt nur eine Person. Sind wir also immerhin nicht ideal auf die Herausforderungen des regierungsamtlich verfügten sozialen Distanzhaltens vorbereitet?

Baring: Ich glaube nicht. Singles sind von den Kontaktbeschränkungen viel mehr getroffen als Menschen, die mit ihrer Familie zusammenleben. Sie sind viel mehr auf die Angebote der öffentlichen Gesellschaft angewiesen. So haben sie gar keine sozialen Kontakte mehr.  Kennen Sie den Spruch „In jedem Dicken steckt ein unglücklicher Dünner“?

Sie meinen, auch Alleinstehende wollen eigentlich Familie haben?

Baring: Ich kenne viele Singles, die sich sehnlichst Partner und Familie wünschen.Viele Singles haben Nichten, Neffen, Patenkinder. Doch nichts, höchstens eine ungewöhnlich intensive Bindung, kann eigene Kinder ersetzen. Ein Kind zu bekommen bedeutet, Leben in die Welt zu bringen. Das Heranwachsen im Leib, die Geburt, das Stillen – das sind unvergleichliche, machtvolle Erfahrungen! Durch ein Kind wird das vorherige Leben komplett auf den Kopf gestellt – es muß ganz auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet werden. Das hilft uns, erwachsen zu werden. Plötzlich entsteht ein lebendiges Interesse an Zukunft. Mir etwa war früher völlig egal, was nach meinem Ende aus der Welt werden würde. Und so kommt mir auch unser jetziger Umgang mit Corona vor: das Anhalten des Lebens, um die zu schützen, deren Leben eigentlich bereits gelebt ist. Das setzt jedenfalls die Priorität nicht auf die Bedürfnisse unserer Kinder und deren Zukunft. Bislang hatte ich den Eindruck, daß das Befinden der Alten der Politik eher gleichgültig ist. Da reicht schon ein Blick in die Pflegeheime und ihre personelle Ausstattung. Aufgrund eigener Erfahrungen hege ich ein gewisses  Misstrauen gegenüber kinderlosen Politikern. Ihnen fehlt das Eingebundensein in die Generationenkette! Das führt zu mangelnder Demut. Wie wichtig ist ihnen Zukunft wirklich? Andererseits ist das Leben ohne Nachkommen auch ein Schicksal, mit dem man zurechtkommen muß. Das ist nicht immer leicht.

Was meinen Sie?

Baring: Mein alter Freund, der Publizist und Zeit-Autor Ben Witter, der 1993 im Alter von 73 Jahren gestorben ist, pflegte immer alles auf den Punkt zu bringen. Auch mit sich selber ging er schonungslos um. Angesichts seiner Kinderlosigkeit bezeichnete er sich kurz und bündig als „Sackgasse“. Das Leben wird uns geschenkt und wir geben es weiter. Wir sind nur ein kleines Glied in der Kette. Das ist normal. Doch habe ich keine Kinder, wer kümmert sich später einmal um mich? Wer pflegt mich? Irgendwelche „Mietlinge“, würde meine Schwiegermutter sagen. Die Menschen denken lange nicht über diese Dinge nach, doch irgendwann holen sie sie ein. So wie bei der Abtreibung – und auch hier spreche ich aus eigener Erfahrung: Ohne mir je darüber Gedanken gemacht zu haben, trieb ich mit 21 ab. Die Haltung damals war, es ist ein Problem und das wird eben gelöst. Doch es stürzte mich in eine tiefe Depression. Ein knappes Jahr lang wurde ich von Alpträumen geplagt. Nacht für Nacht wurde ich im Traum auf brutalste Art und immer anders ermordet. Ich litt am „Post-Abortion-Syndrom“. Als ich später meine beiden Kinder bekam, hatte ich – typisch für einen „Konvertiten“ – Schwierigkeiten damit, nicht von einem Extrem ins andere zu verfallen. Ich begriff nur sehr langsam, daß die „maximale“ Mutter keineswegs die optimale Mutter ist.

Ob gewollt oder nicht, zahllose Deutsche haben dieses Jahr kaum eine andere Wahl, als Weihnachten alleine durchzustehen. 

Baring: Man muß zwischen Alleinsein und dem Gefühl der Einsamkeit unterscheiden. Nicht jeder, der alleine ist, fühlt sich einsam. Das Alleinsein hat auch Vorteile: Man erspart sich mancherlei Schwieriges im Kontakt zu anderen. Viele Menschen jedoch sind nicht nur alleine, sie fühlen sich auch einsam. Unter Einsamkeit zu leiden ist fast so schmerzhaft wie eine Angststörung, die von Sigmund Freud als die schlimmste aller psychischen Erkrankungen überhaupt geschildert wird. Wer unter dem Gefühl der Einsamkeit leidet, sollte in einer Therapie Hilfe suchen. Alles läßt sich ändern – ein „lebenslänglich“ muß es aus meiner Sicht bei diesen Diagnosen nicht geben. Vor einiger Zeit habe ich mit einem Patienten gearbeitet, bei dem maßgeblich – nie ist ein Zustand monokausal – ein transgenerationelles Trauma die Ursache von Beziehungsunfähigkeit war: Sein Vater hatte sich im Krieg in eine russische Partisanin verliebt. Sie entlockte ihm Geheimes über seine Einheit, die daraufhin in einen Hinterhalt gelockt wurde. Die Erkenntnis, für den Tod seiner Kameraden verantwortlich zu sein, löste ein Trauma aus, das er später an den Sohn weitergab. Oft sind es solche alten Vorfälle aus früheren Generationen, die den Menschen im Hier und Heute schwerste Probleme bereiten. Ohne mehrgenerational ausgerichtete Therapie kann man diesen Dynamiken nicht auf die Spur kommen. 

Was empfehlen Sie Einsamen konkret für die Feiertage?

Baring: Wenn Sie weinen möchten, tun Sie es! So lange, bis der Schmerz der Erschöpfung weicht. Danach geht es oft besser. Sie können sich aber auch etwas vornehmen: Der Besuch eines Gottesdienstes, gutes Essen, Fotos sortieren oder andere Dinge erledigen, die Sie schon lange haben machen wollen. Sie können telefonieren, skypen, Briefe schreiben oder sich verabreden. In Fernsehen und Radio werden meist auch tröstliche Programme angeboten. Vielen hilft Beten oder Meditieren. Auch Yoga bietet sich an, auf Youtube sind gute Kurse zu finden.  

Und wer Familienkrach fürchtet? 

Baring: Hier gilt vor allem eines: Alle Reizthemen vermeiden, vor allem Politik, Religion und Geld. Sehr wichtig: Kein oder nur sehr wenig Alkohol! Der kann gefährlich die Zunge lockern. Falls sich dennoch Streit anbahnt, verlassen Sie rasch den Raum und machen ein paar Atemübungen oder einen kleinen Spaziergang ums Haus. Eine einfühlsame Gesprächsführung ist Gold wert. Man sollte den Liebsten generell mehr Fragen stellen, mehr auf sie eingehen, ihnen mehr Geschichten aus ihrer Vergangenheit entlocken und tieferes Interesse zeigen. Gemeinsam singen und musizieren macht glücklich, auch vorlesen oder Gesellschaftsspiele können helfen, die festlichen Stunden schön zu gestalten. Mein Mann lud zu Festen gerne mindestens einen Familienfremden ein. Dann würden sich alle besser benehmen, meinte er. In diesem Jahr ist das leider nicht erlaubt.      






Gabriele Baring, die Therapeutin, Volkswirtin und Unternehmensberaterin ist spezialisiert auf mehrgenerationale systemische Einzel- und Familientherapie, Beratung von Führungskräften sowie Familien- und Systemaufstellungen. 2011 erschien ihr Buch „Die geheimen Ängste der Deutschen“, wiederaufgelegt 2017 unter dem Titel „Die Deutschen und ihre verletzte Identität“. Geboren wurde die ehemalige Merian-Redakteurin und Witwe des Historikers Arnulf Baring 1954 in Hannover.

Foto: Christfest 2020: „Früher war mir egel, was mit der Welt nach mir wird. Und so kommt mir auch unser jetziger Umgang mit Corona vor ... Dieser setzt jedenfalls die Priorität nicht auf die Bedürfnisse unserer Kinder und deren Zukunft. Dabei hatte ich bislang den Eindruck, daß das Befinden der Alten der Politik eher gleichgültig ist – da reicht schon ein Blick in die Pflegeheime“   

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