© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Plan nicht erfüllt
EU-Migrations- und Asylpakt: Bis Ende Dezember wollte Berlin eine Einigung herbeiführen, doch es setzte nur einen „Zug auf ein Gleis“
Curd-Torsten Weick

Kurz nachdem die EU-Kommission am 23. September ihre Pläne für eine künftige Asyl- und Migrationspolitik vorgestellt hatte, trat Bundesinnenminister Horst Seehofer vor die Kameras und lobte den Entwurf als „gute Grundlage“. Im Zuge der bis Ende 2020 laufenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft werde er dazu mit den EU-Mitgliedstaaten umgehend in konkrete Gespräche einsteigen, so der CSU-Politiker. 

Ziel sei es, bis Ende Dezember eine politische Verständigung über die Grundsätze der EU-Migrations- und Asylpolitik zu erreichen. „Eine funktionierende europäische Migrationspolitik gibt es zur Zeit nicht. Das haben uns zuletzt die Vorgänge in Moria deutlich vor Augen geführt. Uns allen sollte klar sein: Die Migrationspolitik entscheidet über das Schicksal Europas. Ein echter Neuanfang ist dringend notwendig. Wir haben jetzt die große Möglichkeit, der Welt zu zeigen, daß Europa bei diesem schwierigen Thema zusammensteht“, zeigte sich Seehofer optimistisch. 

Doch Europa steht nicht zusammen. „Ziel verfehlt: EU weiter uneins bei zentralen Punkten der Asylreform“, zog die Deutsche Presse-Agentur ihr Resümee. Umstritten ist nach Angaben des Fortschrittsberichts der deutschen Ratspräsidentschaft immer noch die Frage der Verteilung von Migranten.

Denn bereits zwei Tage nach der Vorstellung hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán erklärt, daß er den EU-Migrations- und Flüchtlingspakt nicht unterstützen werde. Im Rahmen des Pakets könnte Ungarn verpflichtet werden, Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika aufzunehmen, betonte Orbán. „Das ist ein sehr problematischer Punkt. Es ist nichts anderes als eine umbenannte Umsiedlung. Und wir lehnen Umsiedlungen immer ab. Dieser Punkt ist für das ungarische Volk nicht akzeptabel“, erklärte er und fügte hinzu, daß Asylanträge in „Hotspots“ außerhalb der EU-Grenzen verwaltet werden sollten. Parallel dazu lobte Ungarns Regierungschef, daß „einige Tabus verschwunden“ seien. Ausdrücklich begrüßte er die Schwerpunktsetzung beim Thema Rückführung. 

Le Pen & Co. starten Unterschriftenaktion

Aber hatte Seehofer nicht noch am 9. Oktober betont, daß „insgesamt“ ein starker Wille vorhanden sei, „gemeinsam voranzukommen“? „Wir wollen eine politische Einigung“, sagte er und fügte nochmals hinzu: „Unser Ziel ist es, daß wir bis Ende des Jahres eine politische Einigung über die wichtigsten Säulen des Pakets erzielen und unter portugiesischer Präsidentschaft die Rechtsinstrumente auf den Weg gebracht werden.“ Doch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, die den Migrationspakt vorgestellt hatte, äußerte sich skeptisch über den ehrgeizigen Zeitrahmen und sagte: „Wir werden auch die portugiesische Präsidentschaft brauchen, um das abzuschließen.“ 

Denn die Kritik an dem Vorhaben wuchs von Woche zu Woche. „Die Vorschläge der Kommission sind zum Scheitern verurteilt“, erklärte der FPÖ-EU-Abgeordnete Harald Vilimsky noch am 23. September. Schuld daran sei eine Fehlkonstruktion in der EU, die Migrationsströme weiter vorantreibe. „Die Mehrheit der EU spricht eine Einladung aus und bewirkt eine Pull-Wirkung“, so der Freiheitliche. Brüssel spreche von Asyl, meine aber Migration, und Fakt sei, daß illegale Migrationsströme legitimiert werden. „Gut zwei Drittel haben weder Anrecht auf Asyl noch auf subsidiären Schutz. In der Europäische Union scheint ein Wille dahinterzustecken, Migrationsströme aktiv zuzulassen. Es gibt 24 Partnerschaften mit Herkunftsländern, illegale Einwanderer zurückzunehmen, die überhaupt nicht funktionieren.“ 

Vor allem die Durchsetzung von Abschiebungen liege im Argen, betonte Vilimsky. Nur ein Drittel der Personen, die die Aufforderung erhalten haben, die EU zu verlassen, seien dieser Aufforderung auch nachgekommen. 2019 hätten sich 650.000 Drittstaatsangehörige illegal in der EU aufgehalten. Davon hätten 514.000 die Anordnung bekommen, die Union zu verlassen. „Aber nur 162.000 haben das auch getan. Das zeigt, wie mangelhaft die Durchsetzung von Recht derzeit ist“, schildert Vilimsky die Lage. Zwar habe die EU-Kommission angekündigt, dieses Thema endlich anzugehen. Offen bleibe aber, warum jetzt Abschiebungen in Herkunftsländer besser funktionieren sollen, als dies bisher der Fall gewesen sei.

Um den Druck aufrechtzuerhalten lancierte die Chefin des Rassemblement National Marine Le Pen Anfang Oktober eine Kampagne gegen den „Pakt für den Selbstmord Europas“. Die Migrationspolitik der EU sei Ursache für den „Ruin unserer Sozialsysteme, die Verschärfung der Arbeitslosigkeit, die Immobilienkrise, die Zunahme von Kriminalität und gesellschaftlichen Konflikten, das Vordringen des Islamismus und terroristischer Risiken sowie die Infragestellung unserer zivilisatorischen Werte“, führte die 52jährige aus.

Für die Kampagne will Marine Le Pen in Frankreich „alle lokalen und nationalen Mandatsträger, unabhängig von ihrer Bezeichnung“, gegen diesen Pakt mobilisieren. Auf europäischer Ebene führt der RN zusammen mit der rechten EU-Partei „Identität und Demokratie“ unter dem Motto „Save Europe – EU-Migrationspakt stoppen“ eine Unterschriftenkampagne durch. Ziel ist es, eine Million Unterschriften zu sammeln – die Schwelle für eine Europäische Bürgerinitiative, der es dann gestattet ist, der EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag vorzulegen.

Linke: „Blaupause für die EU-Abschiebeindustrie“

Parallel zur Rechten kritisiert auch die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grüne (GUE/NGL) den neuen Pakt. Er verspreche „fälschlicherweise einen Neuanfang in der europäischen Migrationspolitik“, so das Urteil eines Anfang Dezember veröffentlichten GUE/NGL-Papiers, das von vielen im Bereich der Flüchtlingshilfe tätigen Organisationen unterstützt wurde. „Aber in Wirklichkeit verstärkt er die gescheiterte Politik, indem er sich auf Abschreckung, Eindämmung von Menschen, die in Drittländer fliehen, die Stärkung der EU-Außengrenzen, das Festhalten von Menschen und die Beschleunigung von Verfahren an den Grenzen auf Kosten des Rechts auf ein faires“ Verfahren konzentriere. 

Außerdem werde das Prinzip der Verantwortung des Mitgliedstaates der ersten Einreise beibehalten. „Besorgniserregend“ dabei sei vor allem, daß dieses Paket eine Reihe von Elementen enthalte, die sich an den „fremdenfeindlichen Positionen der Regierungen der Visegrád-Gruppe orientieren“. 

Der Migrationspakt ist ein „Schlag ins Gesicht all jener, die die sogenannten europäischen Werte ernst nehmen“, unterstrich Cornelia Ernst, Obfrau der EU-Linksfraktion. „Schutzsuchende, Migrierende, die zivile Seenotrettung, Hilfsorganisationen, Freiwillige und all jene, die die Versäumnisse der bisherigen EU-Asyl- und Migrationspolitik ausbaden mußten, werden auf diese Weise erst recht verraten“, so die Brandenburgerin. Ihr Fazit: „Der Vorschlag der Kommission ist somit kein neues Asylkonzept, sondern die Blaupause für eine großangelegte EU-Abschiebeindustrie.“

Druck kam nicht nur von links und rechts oder von den Ungarn. Bei den „Mediterranean Dialogues“ am 4. Dezember in Rom forderte Italiens Premier Giuseppe Conte Europa auf, „mehr Mut und Engagement in bezug auf den neuen Pakt zur Migration zu zeigen. Conte hielt den Reformplan für „unzureichend“, sehen ihn aber auch als „gute Ausgangsbasis“. Rom drängt darauf, die Länder der ersten Einreise stärker zu unterstützen. 

Wenige Tage zuvor hatte bereits der französische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune ,verlangt, daß Europa den Solidaritätsmechanismus mit Ländern an vorderster Front wie Spanien, das derzeit mit einer großen Migrationskrise auf den Kanarischen Inseln konfrontiert sei, stärken müsse.

„Wenn es nachweislich illegale Migration gibt, müssen wir in der Lage sein, eine Rückführungspolitik zu organisieren“, sagte Beaune der Presse während eines Besuchs in Madrid Ende November. Der Solidaritätsmechanismus des Paktes allein reiche nicht aus, um Spanien zu helfen. Madrid hatte bereits eine Woche zuvor mit Italien, Griechenland und Malta einen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichnet, in dem sie nicht nur die mangelnde Solidarität zwischen den EU-27, sondern auch den „komplexen und vagen“ Inhalt des Pakt kritisierten.

Von dieser Kritik wollte der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums Stephan Mayer, der Seehofer vergangene Woche am Rande einer Videokonferenz der EU-Innenminister vertrat, nichts wissen. Man habe im Rahmen der Ratspräsidentschaft „soweit es uns möglich war“ den Pakt „nachdrücklich unterstützt“. Aber man habe nur zweieinhalb Monate Zeit gehabt, um mit den Kollegen der 26 Mitgliedstaaten zu verhandeln, so der CSU-Politiker. 

Orbán will Brüssel weiter ärgern

Als Erfolg wertete Mayer, daß „kein einziges“ Mitgliedsland den EU-Vorschlag „nicht als ausreichende Grundlage für die weiteren Gespräche“ beachte. Auch sei man deutlich weiter als vor sechs Monaten. „Wir haben es geschafft, den Zug auf ein Gleis zu stellen“, sprach Mayer in Bildern. Ein „schöner Erfolg“ der deutschen Ratspräsidentschaft sei,  daß der Zug „auf jeden Fall in die richtige Richtung“ fahre. Bei vielen Themen gebe es sogar einen Gleichklang der Interessen zwischen allen EU-Staaten: „Ich nenne da zum Beispiel die Stärkung des EU-Außengrenzenschutzes“, so Mayers eher magere Bilanz. 

Das sah Orbán anders. „Allerdings bleiben schwierige Fragen offen. Der Migrationsaktionsplan der Kommission fordert, daß Migranten eine Unterkunft, Unterstützung und das Wahlrecht erhalten. Der für Migration zuständige Kommissar in Brüssel spricht von 34 Millionen Migranten“, betonte Orbán und erinnerte daran, daß die EU-Kommission neben dem Migrationspakt auch einen Gender-Aktionsplan in Arbeit habe. „Dagegen wehrt sich Ungarn mit aller Kraft. Wir unterstützen das Kinderkriegen statt der Einwanderung, und das traditionelle Familienmodell muß gestärkt werden statt der Gender-Ideologie“, faßte Orbán seine Haltung zusammen.





Ziele des EU-Migrations- und Asylpakts 

• umfassende Koordination auf Ebene der Europäischen Union für eine bessere Steuerung und Umsetzung der Asyl- und Migrationspolitik

• wechselseitig vorteilhafte Partnerschaften mit wichtigen Herkunfts- und Transitdrittländern

• Entwicklung nachhaltiger legaler Wege für Schutzbedürftige und die Anwerbung von Talenten für die Europäische Union

• Unterstützung wirksamer Integrationsmaßnahmen

• ein stabiles und gerechtes Außengrenzenmanagement, einschließlich Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitskontrollen

• faire und effiziente Asylvorschriften, Rationalisierung der Asyl- und Rückführungsverfahren

• ein neuer Solidaritätsmechanismus für Such- und Rettungseinsätze sowie für Druck- und Krisensituationen;

• bessere Krisenvorsorge und -reaktion

• eine wirksame Rückkehrpolitik und ein von der EU koordiniertes Konzept für Rückführungen