© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Das geht ins Ohr
Ein Jahrhundert: Der Hörfunk ist weiterhin beliebt, steht aber vor neuen Herausforderungen
Ronald Berthold

Das erste, was die Radiobesitzer vor 100 Jahren hörten, war „Stille Nacht, heilige Nacht“. Mit dem vom Reichspost-Orchester gespielten Weihnachtskonzert begann am 22. Dezember 1920 die Rundfunk-geschichte Deutschlands. Der Sender stand in Königs Wusterhausen, südlich von Berlin. Heute muß sich das Medium der Konkurrenz von Audiostreaming-Diensten erwehren. Dennoch hat sich ein großes Geschäft entwickelt. Die Umsätze aller deutschen Stationen liegen bei 3,5 Milliarden Euro, wobei drei Viertel auf den Rundfunkbeitrag entfallen.

Zur Fußballweltmeisterschaft 1954 erlebte das Radio seinen vorläufigen Höhepunkt. „Aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen. Rahn schießt …“ Den folgenden unbändigen Torschrei des Herbert Zimmermann hörte eine ganze Nation – und er ist bis heute legendär. So leidenschaftlich hat nie wieder ein Reporter einen Treffer bejubelt wie der Sportchef des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR). Legt man die Fernsehbilder des entscheidenden Tors zum deutschen Triumph gegen Ungarn über den Radiokommentar, dann sieht man, wie originalgetreu und zeitlich exakt Zimmermann wiedergab, was auf dem Rasen geschah.

Öffentlich-Rechtliche verzerren den Markt

Genau das war entscheidend für den Siegeszug des Radios: die unmittelbare Übertragung von Ereignissen aus aller Welt in die Wohnzimmer. Die Erfindung des Fernsehens reduzierte zwar die Zeit, die sich die Menschen nahmen, um vor dem Empfangsgerät zu sitzen. Der Faszination Hörfunk tat das aber keinen Abbruch. Noch heute hören täglich 74,8 Prozent aller Deutschen Radio. Das ergab die Mediaanalyse 2020. Die Hördauer bleibt seit Jahren konstant. 2019 lag sie durchschnittlich bei drei Stunden und vier Minuten am Tag. Damit erfreut sich das Radio unter allen audiovisuellen Medien der größten Beliebtheit.

Die Details der Untersuchung zeigen indes, daß dem Hörfunk die Jugend verlorengeht. Während 79,3 Prozent der über 50jährigen täglich einschalten, sind es bei den 14- bis 29jährigen nur 62,1 Prozent. Streamingdienste liefern den maßgeschneiderten Musikgeschmack. Lieder, die nicht gefallen, kann der Nutzer überspringen. Ähnlich wie in den sozialen Netzwerken verfestigt sich mit Spotify, Apple Music und anderen Anbietern sowie mit zahlreichen Podcasts eine Blase, die wenig Einflüsse von außen zuläßt. Was das Fernsehen längst nicht mehr schafft, nämlich die ganze Familie zu versammeln, bekommt auch das Radio nicht hin. Kinder und Eltern hören völlig unterschiedliche Sender.

Allerdings sind seit der Privatisierung des Hörfunkmarkts Mitte der Achtziger Jahre auch alle Radiosender dazu übergegangen, sich auf eine Musikfarbe festzulegen: Wer Rock mag, den belästigt seine Station nicht mit Schlagern, und umgekehrt. Denn die privaten Sender hatten von Beginn an ihren Erfolg in zielgruppenorientierten Programmen gesucht. Das revolutionierte den Radiomarkt: Die Öffentlich-Rechtlichen zogen nach und gründeten mit ihren großen Budgets immer mehr Spartensender, um die neuen Mitbewerber kleinzuhalten.

Das kostete Geld. Der Rundfunkbeitrag, mit dem freilich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen finanziert wird, hat sich seit 1988 stark erhöht. Damals lag er noch bei umgerechnet 8,49 Euro (16,60 DM). Demnächst soll er – wenn das Verfassungsgericht zustimmt – 18,36 Euro betragen, ein Plus von 116,3 Prozent. Zuletzt flossen 2,7 der insgesamt 8,1 Milliarden Euro Gebührengelder in die Radiosender. Für das nächste Jahr sind noch einmal rund 200 Millionen Euro mehr eingeplant.

Auch die Werbeeinnahmen aller Stationen – der privaten und öffentlich-rechtlichen – stiegen stetig, bis Corona und der Lockdown kamen. Waren es vor acht Jahren noch 733 Millionen Euro wurden für 2020 rund 890 Millionen prognostiziert. Allerdings brach der Markt ein – allein im April um 42 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

Auf Platz eins der meistgehörten Stationen in Deutschland steht seit Jahren das private Radio NRW. Es liefert das Programm für 45 Lokalsender im bevölkerungsreichsten Bundesland. 1,5 Millionen Nordrhein-Westfalen hören täglich zu. Erfolgsrezept: Es handelt sich nicht um einen landesweiten Sender, sondern um einen Rahmenprogrammanbieter ohne eigene Sendeplätze. Die Quote beschaffen die lokalen Radiounternehmen.

Auf den Plätzen zwei und drei folgen die jeweils öffentlich-rechtlichen Bayern 1 (rund 1,1 Millionen) und SWR 3 (998.000). Unter den 20 beliebtesten Sendern sind zwölf ARD- und acht private Programme, darunter drei Mal der SWR. Der Westdeutsche Rundfunk steht mit WDR 2 und 1Live auf den Plätzen 5 und 7 – insgesamt hören bei beiden 1,7 Millionen zu. Ebenfalls je zweimal in die Top 20 schaffen es auch der Hessische und der Mitteldeutsche Rundfunk.

Die schiere Masse, mit der die ARD durch den Äther schallt, ruft inzwischen Kritik hervor. In der Diskussion um die Erhöhung des Rundfunkbeitrags spielt die Frage, ob es wirklich nötig ist, daß der Gebührenzahler 74 öffentlich-rechtliche Radiosender finanzieren muß, eine zentrale Rolle. Ihre Zahl hat sich seit 1987 mehr als verdoppelt. Damals – allerdings ohne die neuen Länder – reichten 36 Programme. Insgesamt beschäftigt die ARD inklusive TV 23.000 festangestellte Mitarbeiter; genauso viele wie die privaten Hörfunksender. Allerdings produzieren diese 3,7 mal soviel Programm. Es gibt 274 Privatstationen. Diese finanzieren sich ausschließlich über Werbung – in der Rezession ein Problem.

Digitalradios sind bisher wenig verbreitet

Mit der geplanten, aber immer wieder aufgeschobenen UKW-Abschaltung, der nächsten Revolution im Radiosektor, wird es für die Privatsender noch schwieriger. Die Betreiber protestieren heftig gegen den Aufbau digitaler Übertragungswege. Der Privatsenderverbund geht für den Umstieg von 500 Millionen Euro Kosten aus. Dies würde das Ende vieler Unternehmen bedeuten. Die ARD hätte ihre Vormachtstellung zurück. Unklar ist noch, wann mit UKW endgültig Schluß sein wird. Derzeit sind die Jahre 2025 und 2032 im Gespräch.

Auch die Deutschen müßten sich umstellen. In fast jedem Haushalt steht noch ein UKW-Gerät. Digitalradios haben bisher nur eine Verbreitung von einem Viertel. Seit dem 21. Dezember, einen Tag vor dem 100. Geburtstag, hat der Gesetzgeber die Händler zum Umstieg verpflichtet. Alle Empfangsgeräte, die ein Display haben, müssen digitalfähig sein. Das gilt auch für neue Autoradios.

Signale vom Funkerberg in Königs Wusterhausen können sie aber schon seit 1995 nicht mehr empfangen: Vor 25 Jahren wurde der erste deutsche Radiosender für immer abgeschaltet. Die 210 Meter hohe, 1916 gebaute Antenne ragt bis heute in den Himmel und erinnert an die Anfänge des immer noch beliebtesten Mediums in Deutschland.