© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

„Ein Persilschein für Stalin“
Politik ohne Geschichte: Deutschlands alleinige „Alleinschuld“ am Zweiten Weltkrieg / Der Historiker Krisztián Ungváry antwortet Heiko Maas und Andreas Wirsching
Oliver Busch

Kann man sich vorstellen, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (1893–1946) und der Historiker Walter Frank (1900–1945), Präsident des stur auf NS-Kurs segelnden Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands, hätten zum 25. Jahrestag des Weltkriegsausbruchs am 1. August 1939 einen gemeinsam verfaßten Artikel im Völkischen Beobachter veröffentlicht, der das Deutsche Kaiserreich von jeglicher Mitschuld an dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts freispricht und zugleich weitere Forschung zur „Schuldfrage“ für unnötig und unerwünscht erklärt?

Wer daran Zweifel sät, fügt den Opfern Unrecht zu

Nein, ein derartig wuchtiger Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit wäre selbst im totalitären Staat Adolf Hitlers undenkbar gewesen. Und nicht einmal in der DDR, in der es, spätestens nach dem Mauerbau und der Vertreibung der letzten „bürgerlichen“ Wissenschaftler, anders als im Dritten Reich nicht die geringste „geduldete Vielstimmigkeit“ (Georg Bollenbeck) mehr gab, war unter den notorisch linientreuen SED-Historikern einer bereit, mit seinem Genossen Außenminister den Schulterschluß zu üben, um dem Klassenfeind eine schneidige geschichtspolitische Lektion zu erteilen.

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, quälen da weniger Skrupel. Zusammen mit Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) verfaßte der Münchner Historiker daher unter dem Titel „Keine Politik ohne Geschichte“ einen Besinnungsaufsatz zum Thema „75 Jahre Kriegsende“, der am 7. Mai 2020 auf Spiegel Online erschien. Schon die ersten beiden Sätze enthalten die Essenz des knappen Textes: „Allein Deutschland trägt die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Wer daran Zweifel sät und andere Völker in eine Täterrolle drängt, der fügt den Opfern Unrecht zu“. Begründet werden diese auf dem Hochsitz der Moral herausposaunten Behauptungen anschließend nicht. 

Stattdessen folgen die üblichen Deklamationen über „universelle Menschenrechte“ und „beispiellose Verbrechen Deutschlands“, die „im Holocaust ihren monströsesten Ausdruck“ gefunden hätten. Einmal abgesehen vom hohlen Pathos, das gern zu falschen Steigerungen greift, wie sie schon der „Untertan“ Diederich Heßling liebte, der Wilhelm II. stets als „persönlichste Persönlichkeit“ titulierte, scheuen die Verfasser auch vor billigster Demagogie nicht zurück. Indem sie den Völkermord an den Juden Europas, für dessen industrielle Verwirklichung in Todesfabriken wie Auschwitz Deutsche in der Tat die alleinige Verantwortung tragen, mit der hochkomplexen, von einer Vielzahl internationaler Akteure bestimmten Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges verketten, um diese weiterer historiographischer Aufklärung zu entziehen. 

Natürlich protestierte kein bundesdeutscher Historiker gegen dieses dreiste Unterfangen, einen „Schlußstrich“ unter die Ursachenforschung zum Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Das sich zudem frech als Warnung vor einem solchen tarnt: „Wer heute einen Schlußstrich ziehen will unter diesen Teil deutscher Geschichte, der verhöhnt nicht nur die Opfer. Er beraubt deutsche Politik ihrer Glaubwürdigkeit.“ Daß diese Bezichtigungen nicht zutreffen, stellt jetzt der ungarische Zeithistoriker Krisztián Ungváry in seiner Kritik der „gut gemeinten, aber unhaltbaren These von der deutschen Alleinschuld“ klar (Tumult, 4/2020). Ungváry, 1999 mit der Entlarvung von „Reemtsmas Legenden“ der „Wehrmachtsausstellung“ bekannt geworden, hatte seine Replik bereits im Mai dem Spiegel angeboten, der sie jedoch genausowenig habe drucken wollen wie große deutsche Tageszeitungen, so daß sie nun mit einiger Verspätung den Fehdehandschuh aufnimmt.  

Kein einziges Ereignis kann monokausal erklärt werden

Was Maas und Wirsching vortragen, liest sich für Ungváry wie ein „Persilschein für Stalin“. Man könnte hinzufügen: auch für die polnische Obristen-Clique, die britischen Falken um Winston Churchill oder den aggressiven One-World-Prediger Franklin D. Roosevelt. Aber Ungváry begnügt sich mit Stalin, um angelehnt an die strafrechtliche Behandlung des Mittäters auszuführen, daß bei einem Mord, den zwei Personen begehen, die Täter nicht je zur Hälfte verurteilt werden, sondern jeder das volle Strafmaß aufgebrummt bekommt. Entsprechend könne die Mitverantwortung der Sowjetunion (Polens, Englands, der USA) Hitler nicht von seinem Anteil an der Kriegsschuld entlasten – und umgekehrt! 

Die „Täterrolle einzig und allein dem deutschen Volk als Kollektivum“ vorzubehalten, könne doch „beim besten Willen nicht ernst gemeint sein“. Denn es gebe „kein einziges historisches Ereignis, das monokausal erklärt werden könnte“. Verwunderlich sei daher nicht, wenn Maas und Wirsching nicht unfähig sind, auf „solide Literatur“ zu verweisen, um ihre „Alleinschuldthese“ zu stützen. Geschichtsschreibung „erfolgt in Grautönen und nicht in Schwarzweiß“, was die Verfasser des Spiegel-Destillats wohl darum nicht begreifen, weil das Thema im Auswärtigen Amt „Chefsache“ sei und die Preisgabe des Postulats deutscher Alleinschuld von jeher als „politischer Sprengstoff“ gelte. 

Nachvollziehbar ist, daß den Amateurhistoriker Maas, der sich rühmt, „wegen Auschwitz“ Politiker geworden zu sein, als Mitglied im Kabinett einer mit Recht und Gesetz hadernden Kanzlerin die Ansichten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Wissenschaftsfreiheit nicht interessieren. Daß hingegen Wirsching als Exponent der etablierten Geschichtsforschung ignoriert, was die Karlsruher Richter seiner Zunft ins Stammbuch schrieben, als sie 1994 einer Verfassungsbeschwerde Udo Walendys stattgaben, mit der sich der NPD-Aktivist gegen die Indizierung seiner Deutung des Kriegsausbruchs von 1939 („Wahrheit für Deutschland“, zuerst 1964) gewehrt hatte, zeigt den hohen Grad der Ideologisierung des Faches an. Anders ist nicht zu verstehen, daß Wirsching vergessen konnte, wie das BVerfG Wissenschaftsfreiheit definiert: Sie schütze auch Mindermeinungen, während sie es verbiete, „Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben“, politisch zu dogmatisieren. Denn auch sie „bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen“. 

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