© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Der Theologe Gerhard Kittel und der strukturelle moderne Antijudaismus
Christliches Überlegenheitsnarrativ
(wm)

Die atlasförmigen Bände des „Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament“ (ThWNT) haben Generationen von Pastoren durchs Studium begleitet. Begründet hat das erst 1979 abgeschlossene Standardwerk 1933 der Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948). „Ein glühender Judenfeind“, wie sich der Historiker Manfred Gailus (TU Berlin) empört, der nach der NS-Diktatur „nie Reue zeigte“ (Zeitzeichen, 11/2020). Immerhin habe die jüngste Analyse der ersten, von Kittel bis zu seiner Entlassung durch die französische Besatzungsmacht noch herausgegebenen Bände erwiesen, daß „dezidierter Antisemitismus“ darin nur marginal vorkomme. Anders stünde es jedoch mit dem „strukturellen modernen christlichen Antijudaismus“, der gegenüber dem Judentum ein „christliches Überlegenheitsnarrativ“ entfalte und von dem das ThWNT regelrecht durchdrungen sei. Insoweit setzte sich der von Kittel, einem tief im schwäbischen Pietismus verwurzelten ideologischen „Vorbereiter des Holocausts“, vertretene traditionelle christliche Antijudaismus bis in die 1970er fort. Die Evangelische Kirche tat sich daher lange schwer mit dem „beschwiegenen Thema“. Noch in der nahezu offiziösen 900seitigen Darstellung „Die Kirchen und das Dritte Reich“ (1979) des Tübinger Kirchenhistorikers Klaus Scholder finde sich Kittels Name nur in einer einzigen Fußnote. 


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