© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 53/20 / 01/21 25. Dezember 2020

Der Flaneur
Im Zug mit Kate Winslet
Paul Leonhard

Ein Wummern zieht durch den Triebwagen, der langsam anfährt. Ich bin weit und breit der einzige Fahrgast. 29 leere Plätze habe ich vor mir gezählt. Hebt Alleinsein im öffentlichen Verkehrsmittel die amtlich vorgegebene Pflicht zum Tragen einer Maske auf? Ich tendiere zu einem Ja; die Nase freut sich. 

Dann höre ich hinter mir die Automatik der Toilettentür surren. Die Tür geht auf und wieder zu. Offensichtlich bin ich doch nicht der einzige Fahrgast. Und schon kommen Schritte näher. Ich senke den Blick, schiebe die Maske wieder über die Nase und entdecke zwei schwarze, kurz vor den Knien endende Stiefel, die vor mir stehenbleiben. Metallisch blinken Schnallen. 

Vor mir baut sich eine weiße Bluse mit schwarzen Lederriemen darüber auf.

Langsam hebe ich den Blick und sehe schlanke Frauenbeine, einen schwarzen Rock, eine schwarze Weste, eine weiße Bluse mit einem grünen Tuch. Quer über dem Oberkörper liegt ein schwarzer Lederriemen, der eine Tasche hält. Ich registriere zum Pferdeschwanz gebundene blonde Haare, eine schwarze Gesichtsmaske und zwei grüne Augen.

Die Schaffnerin hat sich vor mir aufgebaut. „Ich nehme an, ich weiß, was Sie von mir wollen“, sage ich und suche nach einem Papierausdruck. „Die Fahrkarte“, antwortet die junge Frau und nimmt das Papier, um darin mit einer Zange zwei Löchlein zu stanzen. „Was anderes mache ich in dieser Uniform nicht.“

Die Stiefel samt Fräulein marschieren an den leeren Plätzen vorbei. Ich schaue bewundernd auf den um ihre Taille geschnallten Gürtel mit den vielen gefüllten Taschen. Mehr schleppt auch eine Streifenpolizistin nicht mit sich herum. Und als die Zugbegleiterin im Kabuff des Triebwagenführers verschwindet, fällt mir ein, an wen sie mich erinnert: an Kate Winslet, die in ihrer Hauptrolle in „Die Vorleserin“ so souverän in der Uniform einer Straßenbahnfahrkartenverkäuferin auftritt.