© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

„Ich höre, Sie streichen Häuser …“
Film: Martin Scorseses großes Alterswerk „The Irishman“ und andere Mafia-Streifen
Markus Brandstetter

In einem Altersheim sitzt ein alter Mann im Rollstuhl und erzählt uns seine Geschichte. Alkohol, Zigaretten und ein hartes Leben haben ihm sichtbar zugesetzt, aber geistig ist er noch vollkommen klar. Mit bemerkenswerter Präzision erinnert er sich an Dinge, die fünfzig und mehr Jahre zurückliegen.

Das allein wäre schon erstaunlich, aber noch viel erstaunlicher ist, was der Mann mit der Pilotenbrille und der Alcantara-Weste zu erzählen hat. Denn dieser freundliche Herr in seinem Rollstuhl, der treuherzig beteuert, er wäre nur ein ganz gewöhnlicher Kraftfahrer gewesen, der sich ein Leben lang bemüht hat, für Frau und Kinder zu sorgen, ist weder nett noch ehrlich, geschweige denn gewöhnlich. Er ist das absolute Gegenteil davon. In Wirklichkeit war der Mann ein Auftragskiller für die Mafia, weshalb er jetzt, alt, einsam und geplagt von Reue, gerne zusammen mit dem jungen Pfarrer betet, der regelmäßig zu ihm ins Heim kommt.

Der Name des Mannes lautet Frank Sheeran. Das ist ein irischer Name, weshalb der Film, in dem sein Leben erzählt wird, „The Irishman“ heißt. In Wirklichkeit ist Frank allerdings kein Ire aus Irland, sondern ein Amerikaner irischer Abstammung, aber einem Amerikaner sind solche Kleinigkeiten egal. Wichtig ist, wie sich einer fühlt, und Frank hat sich immer als Ire gefühlt, weshalb er sich am Ende seines Lebens auch für einen kleeblattgrünen Sarg entscheidet. Ein Ire kann nicht Mitglied der Mafia werden, das können nur Italiener, aber er kann als „Associate“, also als „Partner“, für die Mafia arbeiten, und das hat Frank getan. Und am Ende hat es ihn fast den Kopf gekostet.

Verbindungsmann zum mächtigen Gewerkschafter

Die Geschichte des Iren, die der amerikanische Regisseur Martin Scorsese in seinem vielleicht letzten Film drei Stunden lang erzählt, beginnt in Philadelphia nach dem Zweiten Weltkrieg, wo Frank (gespielt von Robert De Niro) als Kraftfahrer arbeitet. Irgendwann bleibt Frank mit seinem Lastwagen liegen, als ihm Russ Buffalino (Joe Pesci), eine mittelgroße Figur in der Mafia von Philadelphia, hilft, den Zündverteiler wieder draufzuschrauben. Aus dieser zufälligen Bekanntschaft wird Freundschaft, als Russ erkennt, daß Frank Erfahrung mit Waffen und Sprengstoff hat, Geld für seine wachsende Familie braucht und auch noch verschwiegen und skrupellos ist. Frank beginnt also im Auftrag der Mafia mit kleinen Unterschlagungen, bald kommen Diebstähle und Brandstiftung dazu, aber seinen wahren Wert beweist er der Mafia, als er beginnt, Gegner mit Kopfschüssen methodisch und ohne jede Reue auszuschalten.

Der Durchbruch in Franks Verbrecherkarriere kommt Ende der 1950er Jahre, als er von der Mafia als Verbindungsmann zu Jimmy Hoffa (Al Pacino) eingesetzt wird. Heute weiß fast kein Amerikaner mehr, wer Jimmy Hoffa (1913–1975) war, aber es gab Zeiten, da kannte ihn jedes Kind. Hoffa war zwischen 1957 und 1971 der Präsident der International Brotherhood of Teamsters. Die Teamsters sind die Gewerkschaft der Lastwagenfahrer und gleichzeitig die größte Einzelgewerkschaft der USA. Ihr Chef ist nach dem Präsidenten einer der mächtigsten Männer Amerikas, weil er mit einem Streik jederzeit das öffentliche Leben in den USA lahmlegen kann. Die Führung der Teamsters ist seit ihrer Gründung im Jahr 1903 von der Mafia unterwandert, was bei den Lkw-Fahrern aber keinen stört.

Die Mafia läßt nichts als verbrannte Erde hinter sich 

Franks Beziehung zu Hoffa beginnt mit einem Telefonanruf, bei dem Hoffa zu ihm sagt: „Ich höre, Sie streichen Häuser“, worauf der Ire antwortet: „Ja, und ich erledige auch Schreinerarbeiten.“ Beides sind Code-Ausdrücke. Mit dem Anstreichen von Häusern ist nicht das Anmalen mit Farbe, sondern mit Blut gemeint, mit Franks Handwerkskünsten das Schreinern von Särgen. Hoffa sucht also einen Bodyguard, der nebenbei als Killer fungiert und bei Bedarf Leichen entsorgt.

Sollte Frank gedacht haben, daß er mit einem Job in der Nähe von Hoffa das große Los gezogen hat, dann hat er sich getäuscht. Denn auch wenn er inzwischen vier Kinder hat, in zweiter Ehe verheiratet ist und mit Verbrechen gut verdient, so ist das Management des sturen, aufbrausenden und in Wahrheit unintelligenten Hoffa eine Sisyphusarbeit. Denn Frank sitzt andauernd zwischen zwei Stühlen: zwischen Hoffa, der die Mafia braucht, um seine Gewerkschaft zu kontrollieren, und der Mafia, die sich aus dem Pensionsfonds der Teamsters hunderte Millionen Dollar „geliehen“ hat, mit denen sie Spielkasinos in Las Vegas finanziert. Der Konflikt bricht offen aus, als Hoffa 1975 der Mafia neue Kredite für Las Vegas verweigert. Der Irishman muß jetzt viele Male zwischen Hoffa und der Mafia den Briefträger spielen, aber es hat alles keinen Sinn mehr: Die Mafia hat Hoffa zum Tode verurteilt. Und ausgerechnet Frank, dessen vier Töchter Hoffa wie einen Onkel lieben und mit ihm bowlen und Eis essen gehen, muß ihn umbringen.

Das ist die eindringlichste Szene dieses langen (209 Minuten) und streckenweise langatmigen Films: wie Frank aus nächster Nähe Hoffa von hinten zweimal in den Kopf schießt, wie Hoffa zusammenbricht, die Tapete sich rot färbt und Frank dann, als wäre nichts gewesen, in seinem Auto wegfährt. Am Schluß berichtet er noch ruhig und sachlich, daß der bis heute auch im echten Leben vermißte Hoffa ganz unspektakulär in einem Krematorium verbrannt wurde, das einem Mafia-Associate gehörte.

Am Ende seines Lebens, Anfang der Nullerjahre, sitzt Frank allein im Altersheim und hat niemand, mit dem er reden kann. Seine zweite Frau ist schon lange am Krebs gestorben; seine Töchter besuchen ihn nie, weil sie seine Taten zumindest in Umrissen ahnen. Die Mafiosi, mit denen er einst gegessen, gelacht und getrunken hat, sind alle tot: erschossen, erwürgt oder in Autos verbrannt, die sich Sekunden nach dem Anlassen in einen Feuerball verwandelten.

Der amerikanische Regisseur Martin Scorsese hat sich in seinen Filmen immer wieder mit Gewalt, Mord und Totschlag („Taxi Driver“, „Raging Bull“, „Cape Fear“) und mit der Mafia („Goodfellas“, „Casino“, „The Departed“) auseinandergesetzt, aber selten hat er es so illusionslos getan wie in diesem Film. Scorsese ist 78 Jahre alt. „The Irishman“ ist wahrscheinlich seine finale Auseinandersetzung mit der Mafia. Wenn das stimmt, dann kommt er zu demselben Schluß, zu dem auch Francis Ford Coppola in „Der Pate II“ gekommen ist, nämlich daß die Mafia, die immer gerne so christlich, ehrbar und traditionsbewußt tut, Familien zerstört, Existenzen vernichtet und nichts als verbrannte Erde zurückläßt.

Ein Leben, das sagt nicht nur dieser Film, mit und für die Mafia ist nicht lebenswert. Sehr deutlich zum Ausdruck bringt das auch Marco Bellocchios „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film handelt von dem sizilianischen Mafia-Boß Tommaso Buscetta, der in den 1980er Jahren als Zeuge der Staatsanwaltschaft in Prozeßen auftrat, was dazu führte, daß Hunderte von Mafiosi ins Gefängnis wanderten (JF 34/20). 

Zurück zu „The Irishman“: Auch in anderer Hinsicht setzt dieser Film einen Schlußpunkt unter Scorseses filmisches Schaffen: Der Regisseur hat hier nochmals die Schauspieler verpflichtet, mit denen er immer am liebsten gearbeitet hat beziehungsweise hätte, allen voran Robert De Niro, mit dem er seit fünfzig Jahren befreundet ist und mit dem er neun Filme gedreht hat. Dann wäre da Joe Pesci, der in Scorseses Filmen stets Mafia-Giftzwerge gespielt hat, die immer kurz vor einem mörderischen Explodieren sind, hier aber einmal einen ausgleichenden, fast schon diplomatischen Mafioso gibt. Der Dritte im Bunde ist Al Pacino, der den manischen, vollkommen von sich eingenommenen Hoffa mit Verve und beindruckender Überzeugungskraft spielt. Mit Pacino wollte Scorsese zwar Jahrzehnten einen Film drehen, aber erst jetzt ist es gelungen.

Metapher für ein Land, das seine Seele verloren hat

In den besten Mafia-Filmen steht die Mafia für Gesellschaft schlechthin. Die Beziehungen innerhalb der Mafia beruhen auf einem altmodischen Ehrenkodex, der seinen Ursprung auf den Latifundien des feudalen Sizilien hat. Aber dieser Kodex basiert auf einem fragilen Gleichgewicht der Gewalt und ist auf die moderne Welt nur schwer anwendbar. Konflikte um Macht, Einfluß und Geld, die sich mit den althergebrachten Regeln aus Sizilien nicht lösen lassen, führen bei Mitgliedern der Mafia, die ja keine Gerichte anrufen können, immer zu Mord und Totschlag. Und immer wird mehr zerstört, als die Sache es eigentlich wert war.

Scorsese, selbst italienischer Abstammung und zu einer Zeit in New Yorks Little Italy aufgewachsen, als die Stadt das Hauptquartier der fünf großen Mafia-Familien war, hat das früh begriffen. Seine Mafia-Filme sind eine einzige große Metapher für ein Land, das seine Seele verloren hat und dessen zwischenmenschliche Beziehungen immer öfter durch Gewalt, Vergeltung und Gegengewalt gekennzeichnet sind. 

Das Corona-Jahr und die total aus dem Ruder gelaufene „Black Lives Matter“-Bewegung, für deren Vertreter und Anhänger Demonstrationen gerechte Kleinkriege sind, haben gezeigt: Amerika ist immer nur eine Revolverkugel von Raub, Plünderung, Mord, Massakern und Bürgerkrieg entfernt. Niemand hat diese Entwicklung besser mit dem Medium Film dargestellt als Martin Scorsese.

„The Irishman“ läuft im Stream bei Netflix.