© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Der Große Kurfürst: Ein Vorbild für die deutsche Migrationspolitik?
Die besten Deutschen
Fritz Söllner

Migration gab es schon immer, aber sie wurde nicht immer so krisenhaft erlebt, wie dies heute der Fall ist. Die preußische Geschichte liefert ein gutes Beispiel dafür, wie gut Zuwanderung funktionieren und welche Vorteile sie nicht nur den Zuwanderern, sondern auch dem Zielland bringen kann.

Als Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 das Toleranzedikt von Nantes aufhob und die Hugenotten in Frankreich wieder verfolgt wurden, reagierte der Große Kurfürst von Brandenburg-Preußen, Friedrich Wilhelm, sehr schnell und erließ am 8. November 1685 das Edikt von Potsdam, mit welchem er die Hugenotten zur Übersiedlung in sein Land einlud. 

Der Motive, die ihn dazu bewegten, waren zweierlei: Erstens hatte er religiöse Gründe; er wollte den verfolgten Glaubensgenossen zu Hilfe kommen.Zweitens gab es auch wirtschaftliche Beweggründe. Brandenburg-Preußen litt noch sehr unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges: Die Bevölkerung war geschrumpft, die Städte waren teilweise zerstört, viele Ackerflächen lagen brach, die Produktion war eingebrochen, und die Staatseinnahmen flossen nur spärlich. In dieser Situation erhoffte sich Friedrich Wilhelm von der Zuwanderung der Hugenotten einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine schnellere Überwindung der Kriegsfolgen. Von den circa 200.000 Hugenotten, die aus Frankreich flohen, gingen etwa 20.000 nach Brandenburg-Preußen (1,2 Prozent der damaligen Bevölkerung von 1,5 Millionen); ein Viertel der Neuankömmlinge ließ sich in Berlin nieder, wo sie circa 20 Prozent der Einwohnerschaft ausmachten. Die Einwanderer waren meist gut ausgebildet und hochqualifiziert; sie gehörten zur Elite ihrer jeweiligen Berufsgruppen. Es handelte sich vor allem um Angehörige von Berufen des Textilgewerbes (Tuchmacher, Färber, Weber), daneben kamen auch andere Handwerker (zum Beispiel Messerschmiede, Uhrmacher) sowie Ärzte und Apotheker.

Bei der Zuwanderung wurde nichts dem Zufall überlassen, sondern diese wurde sehr zielgerichtet gesteuert und gründlich durch ein Komitee von Verwaltungsexperten organisiert: Die „réfugiés“ wurden in Sammellagern (Frankfurt/Main, Hamburg, Amsterdam) in Empfang genommen und dann nach Brandenburg-Preußen weitergeleitet, wo sie in den Städten angesiedelt wurden, die am meisten unter Bevölkerungsverlust gelitten hatten und deshalb am ehesten von Zuwanderung profitieren konnten (neben Berlin waren dies zum Beispiel Magdeburg oder Königsberg). Nur anfangs kam es auch zur Zuwanderung Unqualifizierter, wie etwa ungelernten Tagelöhnern, schon ab Februar 1686 wurden diese nicht mehr aufgenommen.

Die Hugenotten wurden von Anfang an großzügig unterstützt. Friedrich Wilhelm gewährte ihnen Privilegien und wirtschaftliche Anreize. Dies tat er einerseits, weil er in Konkurrenz um die Einwanderer mit anderen deutschen Staaten und der Schweiz stand, andererseits, um die erhoffte wirtschaftliche Belebung zu beschleunigen. Der von der Zuwanderung zum Beispiel eines Tuchmachers erwartete wirtschaftliche Effekt würde natürlich eher eintreten, wenn dieser sofort mit Hilfe eines günstigen Kredits eine Manufaktur eröffnen könnte, als wenn er erst zehn Jahre sparen müßte, bis er dazu genügend Eigenkapital hat. Neben der Kreditgewährung bestanden die den Hugenotten eingeräumten wirtschaftlichen Vorteile unter anderem in der Zuweisung von Land, der Zurverfügungstellung von Baumaterialien und der Befreiung von direkten Steuern (zunächst für sechs, später für 15 Jahre).

An rechtlichen Privilegien sind zu erwähnen die sofortige Gewährung der vollen Bürgerrechte, die Gleichstellung des hugenottischen Adels mit den einheimischen Adligen, Religionsfreiheit, das Recht auf die eigene Sprache und das Recht auf eigene Schulen. Die Hugenotten hatten sogar (in Grenzen) eine eigene Gerichtsbarkeit: Sie durften sich einen hugenottischen Schiedsrichter für die Schlichtung interner Streitigkeiten wählen; für Probleme zwischen Deutschen und Hugenotten sowie für fehlgeschlagene Schlichtungsversuche zwischen Hugenotten gab es ein deutsch-hugenottisches Richterkollegium. Daraus entwickelte sich im Lauf der Zeit eine eigenständige Gerichtsbarkeit, die aber unter zentraler Verwaltung von Berlin stand (also kein „Staat im Staat“ war). Sie funktionierte besser als die Gerichtsbarkeit sonst im Königreich und diente als Vorbild für die Justizreform des 18. Jahrhunderts.

Die Preußische Akademie der Wissenschaften hatte zeitweise 30 Prozent Hugenotten als Mitglieder, was ein deutliches Indiz dafür war, daß die Hugenotten nicht nur Teil der ökonomischen, sondern auch Teil der intellektuellen Elite Frankreichs waren. 

Trotz dieser Vorrechte kam es zu einer weitgehend problemlosen Integration und Assimilation. Vielleicht sollte man besser von einer Akkulturation sprechen, da es zu einer gegenseitigen Anpassung kam, bei der die Hugenotten aber den weitaus größten Teil der Anpassung leisteten. Zwar gab es anfängliche Widerstände der einheimischen Bevölkerung, die auf die wirtschaftlichen Vorteile der Neuankömmlinge neidisch und über die durch diese ausgelösten Preissteige-rungen (zum Beispiel bei Lebensmitteln) unwillig war. Dieser Unwille legte sich aber schnell, als den Einheimischen die Vorteile durch die Einwanderung klar wurden.

Hugenotten wurden beliebte Nachbarn, weil sie sehr ordentlich und gesetzestreu waren, und begehrte Lehrherren, bei denen man viel Neues und Wertvolles lernen konnte; deutsche Kinder wurden häufig auf französische Schulen geschickt, die besser als die deutschen Schulen waren. Auch das Recht auf die eigene Sprache stand einer Integration nicht im Wege. Denn Deutsch mußte de facto gelernt werden für den Kontakt zu Behörden, Kunden und Lieferanten, so daß Französisch allmählich zur Zweitsprache wurde – und das auch nur in der Oberschicht. Nicht zuletzt deshalb kam es zu einer schnellen Verschmelzung der Bevölkerungsgruppen: Ab Mitte des 18. Jahrhunderts heirateten circa drei Viertel der Hugenotten deutsche Männer beziehungsweise Frauen. Auf preußischer Seite bestand die „Anpassung“ im wesentlichen darin, daß man Gefallen an vorher unbekannten Produkten (zum Beispiel Weißbier oder Spargel) fand und ungewohnte Gebräuche übernahm, zum Beispiel den Besuch von Gartenlokalen.

Die problemlose Integration ist nicht wirklich überraschend: Wie erwähnt waren die Zuwanderer sehr qualifiziert und brachten Vorteile für die einheimische Bevölkerung; vor allem aber gab es nur eine geringe kulturelle Distanz. Französisch wurde von der preußischen Oberschicht gesprochen; es bestand eine enge Glaubensverwandtschaft; und beide Bevölkerungsgruppen waren Teil der gemeinsamen europäischen Zivilisation.

Die ökonomischen Hoffnungen Friedrich Wilhelms erfüllten sich vollständig. Es kam nicht nur kurzfristig zu Wirtschaftswachstum infolge der gestiegenen Nachfrage und des gestiegenen Arbeitskräftepotentials. Wichtiger war die längerfristige Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung durch den Wissenstransfer und den damit einhergehenden technologischen Fortschritt.

Dabei gab es durchaus auch Rückschläge: Die Seidenproduktion mit Pflanzung von Maulbeerbäumen und Zucht von Seidenraupen schlug fehl; etliche Unternehmensgründungen waren erfolglos; und der Wissenstransfer dauerte relativ lange, was vor allem daran lag, daß Brandenburg-Preußen zu rückständig war, um schnell zu profitieren. Die einheimischen Handwerker und Gewerbetreibenden hatten erst einen Aufholprozeß zu leisten, bevor sie sich die neuen Kenntnisse und Fertigkeiten effektiv zunutze machen konnten.

Insgesamt war die Zuwanderung aber ein großer wirtschaftlicher Erfolg, und es zeigte sich, daß sich die Wirtschaft in den Städten, in denen sich Hugenotten ansiedelten, längerfristig deutlich besser entwickelte als im Rest des Landes.

Aber die Hugenotten bewirkten nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen kulturellen Aufschwung. Unter ihnen befanden sich auch Verleger, Wissenschaftler und Dichter, die das Geistesleben befruchteten. So hatte die 1700 gegründete Preußische Akademie der Wissenschaften zeitweise 30 Prozent Hugenotten als Mitglieder, was ein deutliches Indiz dafür war, daß die Hugenotten nicht nur Teil der ökonomischen, sondern auch Teil der intellektuellen Elite Frankreichs waren. Berühmte Dichter hatten hugenottische Vorfahren, wie etwa Theodor Fontane oder Friedrich de la Motte Fouqué.

Aus der erfolgreichen Migrationspolitik des Großen Kurfürsten läßt sich eine Lehre ziehen: Wenn ein Land von Einwanderung profitieren will, muß es diese steuern und dabei Wert auf hohe Qualifikation und geringe kulturelle Distanz der Einwan-derer legen. 

Die Hugenotten erwiesen sich auch als vorbildliche Staatsbürger und Patrioten. Sie waren für ihre Aufnahme und die ihnen gewährten Privilegien und wirtschaftlichen Vorteile sehr dankbar. Diese Dankbarkeit äußerte sich in großer Gesetzestreue und unbedingter Loyalität zu Staat und Königshaus. Es war selbstverständlich, für Preußen in den Krieg zu ziehen – und zwar auch gegen Frankreich. Die Familie von Friedrich de la Motte Fouqué liefert hierfür das beste Beispiel: Sein Großvater diente als General unter Friedrich dem Großen; der Dichter selbst kämpfte auf der Seite Preußens in den Koalitionskriegen und in den Befreiungskriegen gegen Frankreich. Diese Tradition setzte sein Sohn fort, der es bis zum Generalmajor in der preußischen Armee brachte und unter anderem am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 teilnahm. Nicht ohne Grund bezeichnete Bismarck die Hugenotten als „die besten Deutschen“.

Im Ergebnis hat Preußen durch die Einwanderung der Hugenotten sehr profitiert – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell. Aus der erfolgreichen Migrationspolitik des Großen Kurfürsten läßt sich eine wichtige Lehre ziehen: Wenn ein Land von Einwanderung profitieren will, muß es diese steuern und dabei Wert auf möglichst hohe Qualifikation und möglichst geringe kulturelle Distanz der Einwanderer legen.

Leider hat die Bundesrepublik sich daran kein Beispiel genommen. Sie betreibt eine völlig andere Migrationspolitik, die zur unkontrollierten Zuwanderung Niedrigqualifizierter mit großer kultureller Distanz führt. Deshalb muß die aktuelle deutsche Migrationspolitik als gründlich verfehlt bezeichnet werden, was sowohl für die Einwanderungs- als auch und insbesondere für die Flüchtlingspolitik gilt.

Was erstere betrifft, so gibt es keine besonderen Anreize für Hochqualifizierte, obwohl Deutschland in einem internationalen Wettbewerb um diese steht. Es gibt kein Einwanderungsgesetz im Sinne einer langfristigen und potentialorientierten Einwanderungspolitik, wie sie dem Edikt von Potsdam zugrunde lag.

Die Hauptbaustelle der deutschen Migrationspolitik ist aber die Flüchtlingspolitik. Im Gegensatz zur Politik des Großen Kurfürsten, der Geringqualifizierte bewußt ferngehalten hat, hat die deutsche Flüchtlingspolitik hohe Anreize für Niedrigqualifizierte geschaffen. Diese bestehen erstens aus den sehr großzügigen Asylbewerber- und sonstigen Sozialleistungen, die eine große Anziehungskraft gerade auf Niedrigqualifizierte ausüben.

An zweiter Stelle ist unser „Deluxe“-Asylrecht zu nennen, das nicht nur viele, teils schwer überprüfbare Asylgründe kennt, sondern auch Asylbewerbern die Beschreitung des Rechtswegs ohne Kostenrisiko erlaubt. Als ob dies noch nicht genug wäre, geht man bei der Abschiebung rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber bemerkenswert inkonsequent vor; diese werden zum Großteil geduldet und können, wenn sie sich nur lange genug hier aufhalten, schließlich doch auf eine Aufenthaltserlaubnis als „Gutintegrierte“ hoffen. Auf diese Weise kommt es zur Vermischung von Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, da so aus Flüchtlingen de facto Ein-wanderer werden.

Als dritter Faktor ist schließlich der mangelhafte Grenzschutz (sowohl von deutscher Binnengrenze als auch EU-Seegrenze) zu nennen, der die mißbräuchliche Inanspruchnahme des Asyl-rechts und des Sozialsystems überhaupt erst ermöglicht.

Wir sehen heute aus den genannten Gründen die massenhafte Zuwanderung Geringqualifizierter in unseren Sozialstaat. Die Konsequenzen dieser Migrationspolitik unterscheiden sich deshalb grundlegend von denen der Politik des Großen Kurfürsten: Neben hohen unmittelbaren Kosten haben wir mit sich verschärfenden Verteilungskonflikten und einer langfristigen Destabilisierung des Sozialstaats und der Staatsfinanzen zu rechnen. Weitere Probleme entstehen dadurch, daß die Zuwanderer nicht nur geringqualifiziert sind, sondern auch eine große kulturelle Distanz zur einheimischen Bevölkerung aufweisen. Die so verursachte starke Zunahme der Diversität führt unter anderem zu einer höheren Kriminalitätsrate, volkswirtschaftlichen „Reibungsverlusten“ in Form steigender Transaktionskosten und einer Unterminierung des gesellschaftlichen Grundkonsenses, auf dem unser Sozialstaat beruht.

Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Einwanderungs-, vor allem aber der Flüchtlingspolitik steht außer Frage. Hierfür wäre die Politik des Großen Kurfürsten ein sehr gutes Vorbild.






Prof. Dr. Fritz Söllner, Jahrgang 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Zuvor lehrte er an der Universität Bayreuth und war John F. Kennedy-Fellow in Harvard. Seine Schwerpunkte sind Migrations-, Klima- und Energiepolitik. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien: „System statt Chaos. Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“.

Foto: „Der Große Kurfürst nimmt die vertriebenen französischen Reformierten bei sich auf“ (Farbdruck von Carl Röhling): Gesetzestreu und loyal