© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/21 / 08. Januar 2021

Empathische Aufklärung
Drogenmißbrauch: Internetformate blicken abschreckend, aber auf Augenhöhe ins Abhängigen-Milieu
Hermann Rössler

Wer in der Großstadt wohnt, kennt sie. Eingefallene Gesichter, Augen, die aus tiefen Höhlen ruhelos und ohne Fokus umherschweifen. Abgemagerte Körper, Ekzeme und offene Wunden an Armen und Beinen. Drogenabhängige sind gesellschaftliche Randgestalten. U-Bahnstationen, S-Bahnhaltestellen und Hauptbahnhöfe sowie die Gegenden rundherum gehören zu ihren beliebtesten Aufenthaltsorten. Dort wo niemand bleibt, verweilen sie. Sichtbar und gleichzeitig unbeachtet, jedenfalls gemieden, führen sie ein Dasein als Schatten ihrer selbst. Daß sie existieren, beweist vor allem der Gestank ihrer Körper, ihrer Klamotten, ihrer Pfeifen und Bleche. 

Vor den Augen der Bevölkerung, die Bahnhöfe zum ein-, aus- und umsteigen benutzt, entfaltet sich ein undurchsichtiger Kosmos aus Sucht, Prostitution, Bettelei und Elend. „Mir war langweilig“, erklärt Tanja (42), während ihr Oberkörper nach vorne und hinten schaukelt, ihre Augen sich zwischen den Wimperschlägen verdrehen und zeitweise wahnsinnig angespannt den Fragesteller anstarren. Sie stamme ursprünglich aus einem Dorf. Weh und Klage, Schimpferei der Eltern habe sie nicht beachtet. Jetzt sitzt sie im Frankfurter Bahnhofsviertel. Was sie ihrem Schöpfer sagen will, wenn sie vor ihm steht? „Entschuldigung, daß ich es so verkackt habe.“ 

Jeder der Bahnhofsbewohner hat eine eigene Geschichte. Auf Youtube erzählen Junkies über ihr Schicksal, ihre Beweggründe, ihre Hoffnungen. Kanäle wie „Straßenleben“, „MyStory“ oder „Ich“ zählen Zehntausende bis Hunderttausende Klicks.

Bahnhofsviertel Frankfurt am Main, Gneisenaustraße Berlin, Gumpendorfer Straße Wien, Ebertplatz Köln, in jeder größeren Stadt gibt es mindestens einen Junkie-Hotspot. 

Oftmals befinden sich diese auch in Nähe von Drogenkonsumräumen, Suchtberatungen, Aids-Hilfen. In den Drogenkonsumräumen können Abhängige unter bestimmten Voraussetzungen beaufsichtigt Heroin oder Crack konsumieren. 27 solcher Druckräume gibt es in Deutschland. Einen Druck setzen, heißt sich eine Spritze injizieren. Heroin und Crack (kristallförmiges, mit Natrium gemischtes Kokain) können geraucht und gespritzt werden, Heroin findet auch durch die Nase seinen Weg in den Blutkreislauf.

Auch in der Drogenszene gibt es eine Hierarchie. Wer an der Spritze hängt, ist ganz unten angekommen. Viele Süchtige schauen auf eine ähnliche Drogen-Biographie zurück: Mit 12 oder 13 Jahren Marihuana, Alkohol, Party-Aufputscher wie Ecstasy, Speed, Koks und irgendwann Heroin zum Runterkommen. So richtig bewußt griffen die wenigsten zu diesen Mitteln.

Die Sucht geht oft einher mit Straftaten

Andre Welter (47), Künstlername $ick, berichtet in seinem Video-Blog „Shore, Stein, Papier“ und seinem gleichnamigen Buch von seiner Vergangenheit als Einbrecher und Junkie in Hannover. Mit 15 Jahren habe er das erste Mal Shore, der Straßenname für Heroin, geraucht. Man erhitzt den Stoff auf einer Alufolie und zieht den Rauch durch ein Röhrchen ein. Monatelang habe er keine Ahnung gehabt, was Shore überhaupt sei, bis ihn ein anderer Konsument darauf angesprochen habe, daß er doch noch sehr jung für das Zeug sei. Aber da war es bereits zu spät. 

Ein Leben zwischen Ladendiebstählen in Kleidungsboutiquen oder Kiosken, Justizvollzugsanstalten, heftigen Abstürzen, Großdeals mit Cannabis, Entzügen, Rückfällen, Depressionen. Die Geburt seiner Tochter habe schlußendlich sein Gewissen aktiviert. Seit 2012 ist $ick sauber, was harte Drogen angeht. Inzwischen geht er in Schulen, versucht Jugendliche zur Reflexion ihrer selbst zu animieren. Was er eigentlich gesucht habe, sei Geborgenheit gewesen, sagt er rückblickend. Vom neuen Freund seiner Mutter als „unerwünschtes Mitbringsel“ bezeichnet, hätten „erst das Kiffen, später dann die Shore“ fehlende „emotionale Wärme“ ersetzt. 

Das sei die tragende Eigenschaft, „das Markenzeichen“, eines Opiats. Wenn $ick erzählt, entstehen Bilder seiner Erlebnisse vor dem geistigen Auge. Gestenreich und mit einem spitzbübischen Lachen, das ihn in ironische Distanz zu seinem früheren Sein setzt, belebt er seine Geschichte. Klar ist aber auch: „Die Sucht geht nie weg, das ist eine Lebensdiagnose.“ Man müsse lernen, damit umzugehen.

Im Fernsehen so drastisch kaum zu sehen

Was die meisten der Interviewten eint, – die man so drastisch, ausführlich, aber auch auf Augenhöhe selten im TV sieht –, ist der offensichtliche innere Zwiespalt. Die Sucht, die Faszination für den Rausch, für das Leben auf der Straße, das so abseits jeder systemischen Realität stattfindet. Auf der anderen Seite der Wunsch nach Nüchternheit, einem klaren Kopf, die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.

Nicht alle behaupten von sich, eine schwere Kindheit gehabt zu haben. Aber ausnahmslos jeder spricht von seiner Familie, von seiner Herkunft, seinen Wurzeln. Bereuen tun sie vor allem Beziehungen, die kaputtgegangen sind, zwischenmenschliche Pflichten, die nicht erfüllt wurden. Die Anziehungskraft psychoaktiver Substanzen und einer verborgenen Halbwelt bleibt. Das zeigt auch die Nachfrage nach solchen Videos – die hoffentlich aufklären und viele Leute abschrecken und so vor einem Abrutschen bewahren.