© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Nicht schlauer als zuvor
Corona: Bis mindestens zum Monatsende gilt der weitreichendste Lockdown
Jörg Kürschner

Nach zumeist sachlichen Debatten über die Corona-Einschränkungen wird der Ton zu Beginn des Superwahljahres 2021 deutlich gereizter. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) brachte erstmals eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen ins Gespräch. Mediziner, Wirtschaft und Politik streiten weiter über Strategien, wie die unverändert hohe Zahl der Neuinfektionen gesenkt werden kann.

Seit vergangenem Montag gilt vorerst bis zum Monatsende in allen 16 Bundesländern der bisher härteste Lockdown nach Beginn der Pandemie. Auch wenn es in einzelnen Ländern Ausnahmen bezüglich der Kinder gibt, dürfen sich Haushalte nur noch mit einer weiteren Person treffen. Schulen und Kitas bleiben meist geschlossen. Neu ist der eingeschränkte Bewegungsradius für Menschen, die in einem Landkreis mit mehr als 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner leben. Sie dürfen sich ohne triftigen Grund nicht mehr als 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen. Zu Wochenbeginn waren knapp hundert Landkreise betroffen. Ziel der Bundesregierung ist es, die Inzidenz auf unter 50 in sieben Tagen zu drücken. Im vergangenen Frühjahr hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) diesen Wert mit der personellen Ausrüstung in den Gesundheitsämtern begründet.

Doch wird dieses Ziel zunehmend in Frage gestellt, auch weil die Zahl der Neuinfektionen trotz des Lockdowns hoch bleibt. Der Epidemiologe Klaus Stöhr spricht von einer Illusion, „in unserer Klimazone sei das Ziel einer 50er-Inzidenz nicht machbar“. Der Medizinstatistiker Gerd Antes empfiehlt als Indikator die Auslastung der Intensivkapazitäten in Krankenhäusern. Insgesamt sei man jetzt nicht wirklich schlauer als zu Beginn der Pandemie, kritisierte er. Dagegen plädieren etwa der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und die Virologin Melanie Brinkmann dafür, die Zielmarke für ein Ende des Lockdowns auf bundesweit 25 bzw. 10 Neuinfektionen zu senken. Als Grund verwies Lauterbach auf neue Varianten des Coronavirus. Nach Ansicht der AfD hat die Regierung auf ganzer Linie versagt. Deutschland habe bei den täglichen Corona-Todesfällen je eine Million Einwohner sogar die USA überholt, betonte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland.

Auf energischen Widerspruch stieß Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow mit seiner Forderung nach einem kompletten Lockdown auch für die Wirtschaft. Eine permanente Verlängerung von Einzelmaßnahmen, die aber insgesamt nicht zum Austrocknen des Virus führten, sei ein teurer und falscher Weg. Der Linken-Politiker bereut inzwischen, sich im Herbst gegen besonders harte Maßnahmen ausgesprochen zu haben. „Die Kanzlerin hatte recht, und ich hatte unrecht“, sagte er rückblickend. 

„Lockerungen für Immunisierte“

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hielt dagegen. „Das ist doch absurd. Sie können doch nicht alle Betriebe schließen. Nur mit Wertschöpfung können wir unsere Sozialsysteme am Leben halten, die im Moment alle versorgen“. Die von den Grünen angeregte Homeoffice-Quote, der sich die Wirtschaft wegen voller Büros nicht länger verschließen dürfe, kommentierte Dulger mit dem Trend, „daß man nach einer langen Phase daheim gerne mal wieder in den Betrieb kommt, um auch mal wieder die Kollegen zu sehen“. Unterdessen wurde bekannt, daß sich die Auszahlung der Novemberhilfen erneut verzögert. Das Bundeswirtschaftsministerium verwies auf Software-Probleme.

FDP-Generalsekretär Volker Wissing bezweifelte, ob die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen Radius von 15 Kilometern rechtmäßig ist.  „Wir haben hier keine gesetzliche Grundlage. Inwieweit das verfassungskonform ist, muß man prüfen“, sagte er und verwies auf die unterschiedlichen Auswirkungen. „Wenn Sie in Berlin leben, haben Sie praktisch keine Einschränkungen. Wenn Sie auf dem Land leben und das nächste Dorf 15 Kilometer entfernt ist, dann sind Sie quasi aufs Dorfleben reduziert“. 

„Ich habe meine Zweifel, ob hier nicht der Bogen überspannt wird“, meinte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU). Den Kontrapunkt setzte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD). „Ich würde die Mobilität noch viel stärker einschränken“. Man hätte vielleicht zwei unterschiedliche Kategorien für Großstädte und für alle übrigen Orte schaffen sollen, gab der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio zu bedenken. 

Nachdem die Zahl der Impfungen in Deutschland auf niedrigem Niveau langsam steigt, hat eine Debatte über mögliche Ausnahmeregelungen für Geimpfte eingesetzt. Für Reiserückkehrer, die eine „Impfdokumentation über eine mindestens 14 Tage vor Einreise erfolgte Schutzimpfung vorlegen“, könnten Pflichttests und Quarantäne entfallen, heißt es im Bundesgesundheitsministerium. Die derzeitige Regelung, wer zuerst gegen Corona geimpft wird, hält Di Fabio für verfassungswidrig. „Nach unserem Verfassungsverständnis muß das, was für die Grundrechte wesentlich ist, vom Parlament per Gesetz geregelt werden“. Derzeit wird die Reihenfolge aber in einer Verordnung des Bundesgesundheitsministers geregelt. Der Staatsrechtler schlägt „Lockerungen für Immunisierte“ vor, die gegebenenfalls „einen Anreiz bieten“ könnten, sich impfen zu lassen. 

Ähnlich argumentiert dessen früherer Kollege Rupert Scholz (CDU). Bei solchen Lockerungen gehe es nicht um Solidarität mit Noch-nicht-Geimpften, sondern um die Frage, „ob Bürger, die nachweislich nicht mehr ansteckend sind, weiter bevormundet werden sollen“. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat beklagt, daß es „unter Pflegekräften in Alten- und Pflegeheimen eine zu hohe Impfverweigerung“ gebe. Der deutsche Ethikrat solle deshalb Vorschläge machen, „ob und für welche Gruppen eine Impfpflicht denkbar wäre“. Eine Impfpflicht ist von der Bundesregierung, insbesondere von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), bisher stets abgelehnt worden. Am 25. Januar wollen sich Bund und Länder erneut zu einem Corona-Gipfel treffen.