© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Der halbe Euro
Inflation: Wie die Zentralbanken die Konsumenten schröpfen
Mathias Pellack

Wollen Sie ein Haus kaufen? Wollen Sie Geld für das Alter ansparen? Oder wollen Sie mit ihrer knappen Rente Nahrungsmittel im Supermarkt erwerben? Egal, in jedem Fall macht Ihnen die EZB einen Strich durch die Rechnung, denn sie entwertet absichtlich das Geld, das Sie bereits besitzen.

Laut den laufend durchgeführten offiziellen Berechnungen betrug die Inflationsrate seit der Euro-Einführung 1999 durchschnittlich 1,49 Prozent pro Jahr. Was also vor der Jahrtausendwende noch einen Euro gekostet hat, würde demzufolge durchschnittlich allein durch den Verfall der Währung heute 1,37 Euro kosten. Aus der Perspektive des Sparers betrachtet hätten 100.000 Euro, die 1999 zurückgelegt wurden, 2020 nur noch eine Kaufkraft von 73.000 Euro.

Das Phänomen ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß die EZB die jährliche Teuerungsrate aus einem hypothetischen Warenkorb ableitet, der einige gravierende Schwachstellen hat, wie der Assistenzprofessor im französischen Angers Karl-Friedrich Israel und der Leipziger Professor Gunther Schnabl in einer 2020 publizierten Arbeit schreiben.

Die Güter und Dienstleistungen des betreffenden Warenkorbs, des sogenannten Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), enthalten beispielsweise keinen „Zukunftskonsum“, kritisieren die Autoren. Das heißt, die für viele Bundesbürger heute notwendige Idee, sich für einen Hauskauf oder zum Aufbessern der kargen künftigen Rente etwas zurückzulegen, ist schlicht nicht berücksichtigt.

Spareinlagen aller Art werden außen vor gelassen. Das mag aus der Entstehungsgeschichte dieses Inflationsmeßwerkzeugs zu erklären sein – für die heutige Marktentwicklung sehen viele Ökonomen es aber als ungeeignet an. 

Ein weiterer konkreter Mißstände des HVPI-Warenkorbs ist, die Tatsache, daß der durchschnittliche Bürger nur sechs Prozent seines monatlichen Einkommens für Wohnkosten und Miete  – der Erwerb von Wohnraum ist auf europäischer Ebene gar nicht mitbedacht – zahlt, obwohl laut statistischem Bundesamt Deutschlands Durchschnittsbürger im Jahr 2019 rund 26 Prozent seines verfügbaren Haushaltseinkommens für Miete und Nebenkosten beziehungsweise den Unterhalt seines Wohneigentums aufwendete. Elf Millionen Bundesbürger zahlten gar 40 oder mehr Prozent ihres Einkommens nur für die Wohnung. Die Schieflage ist mehr als offensichtlich. Doch die selektive Wahrnehmung der Inflation über den HVPI begünstigt wohlhabende und reiche Individuen.

Ökonomen stellen Macht der EZB in Frage

Aber damit nicht genug. Es werden keine öffentlichen Güter wie Straßen, die Gesundheitsversorgung, die öffentlich rechtlichen Medien und Schulen mit in den HVPI einberechnet, obwohl diese über die Steuern und Abgaben in Deutschland von jedem Konsumenten und Steuerzahler bezahlt und von vielen sogar genutzt werden.

Israel und Schnabl haben diese drei Faktoren (Zukunftskonsum, Wohnkosten und Ausgaben für öffentliche Güter) einberechnet und kommen so auf eine durchschnittliche Inflation von 2,57 Prozent, wobei in jüngster Zeit vor allem die Wohnkosten diesen Wert nach oben getrieben haben. Der Sparer, der zur Jahrtausendwende 100.000 Euro zurücklegte, hätte damit effektiv nur noch die Kaufkraft von 53.000 Euro zur Verfügung. 

Die Studienautoren schreiben auf dem Portal „Ökonomenstimme“: „Dieses Ergebnis macht nachdenklich. Die blinden Flecken bei der offiziellen Inflationsmessung verschleiern im Extremfall einen Wohlstandsverlust breiter Bevölkerungsschichten.“ Den Wirtschaftswissenschaftlern zufolge erklärt die unvollkommene Messung von Inflation möglicherweise auch, „warum der Preisindex von Eurostat nicht sichtbar auf die inzwischen gigantischen Anleihenkäufe der EZB reagiert“. 

Die Autoren regen daher an, das Meßwerkzeug des HVPI auf seine Genauigkeit zu prüfen. „Weil eine anhaltend ultra-lockere Geldpolitik aber negative Wachstums- und Verteilungseffekte hat, sollte zum Wohle der Bürger und Bürgerinnen in der Europäischen Union die Inflationsmessung einer offenen und umfassenden Prüfung unterzogen werden“, schreiben Israel und Schnabl.

Was derzeit geschieht, ist aber das genaue Gegenteil. Infolge des großen Kreditbedarfs seitens der Staaten für ihre anhaltende Lockdownpolitik erweitert die EZB die Euro-Erzeugung auf neue Rekordhöhen. Das einstige Inflationsziel – das die EZB übrigens so selten erreicht hat, daß man hier eher von Zufall als von Können reden muß – von unter zwei Prozent soll aufgeweicht werden. Im Gespräch sind nun um die zwei Prozent. Die zentrale Notenbank des Euroraums gewinnt damit mehr Spielraum nach oben. Der Druck auf die mittleren Einkommensschichten, jene Menschen also, die nicht permanent auf staatliche Leistungen angewiesen sind und gleichzeitig nicht die Ausweichmöglichkeiten über Kapitalhebel oder Steuerflucht haben, die Reiche nutzen können, wird weiter zunehmen. Abermals werden mittlere Einkommen für verfehlte Politik zur Kasse gebeten. Denn ein bleibender Effekt der Inflation ist die Entwertung bestehender Guthaben.

Um diesen Mißstand zu verdeutlichen, hat der Statistikprofessor Hans Wolfgang Brachinger den Index der wahrgenommenen Inflation erstellt, der seit dem Beginn seiner Berechnung im Jahr 2004 bis 2020 bei durchschnittlichen 6,9 Prozent liegt. Dieser Index mißt die Inflation nicht aus der Sicht des Verbraucher, sondern aus der des Käufers. Er bezieht dabei mit ein, daß Preiserhöhungen bei häufig erworbenen Produkten die Käufer subjekiv stärker beeinflussen. Verteuert sich also beispielsweise ein oft gekaufter Käse im Supermarkt um zehn Prozent, wird das stärker wahrgenommen, als wenn der seltener gekaufte teure Wein um zehn Prozent im Preis steigt.

Euro-Währungshüterin Lagarde bewegt sich

Diese „gefühlte Inflation“ übertrifft zwar auch die von Israel und Schnabl berechnete Quote immer noch deutlich, aber der Index deutet klar an, daß eine große Diskrepanz zwischen dem Geldwert in der offiziellen Statistik und dem im Portemonnaie des einzelnen existiert.

Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman sagte einmal: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.“ Da Friedman hier die Essenz des Phänomens benennt, muß die Diskrepanz zwischen der EZB-Geldpolitik und dem tatsächlich gemessenen Wertverlust des Euro, in einem Meßfehler begründet sein, oder es gibt weitere Faktoren, die die tatsächliche Inflation verzerren. Die klassische Theorie sagt: Eine Erhöhung der Geldmenge im Vergleich zur Warenmenge führt zu Inflation. Wenn nun aber nur ein begrenzter Warenkorb betrachtet wird, der viele Bereiche gar nicht abdeckt, ist klar, daß eine Schieflage entsteht.

FAS-Wirtschaftsjournalist Rainer Hank schließt aus dieser Unsicherheit in einem Gastkommentar in der Neue Zürcher Zeitung gar, „daß die Macht der Notenbanken zur Inflationserzeugung mit äußerster Skepsis betrachtet werden muß“.

Interessant ist hier auch, daß die Leiterin der Gruppe „Preise“ des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, Susanne Hagenkort-Rieger, im Wirtschaftsdienst unter dem Titel „Wird die ‘wahre’ Inflationsrate gemessen?“ dazu Stellung bezieht und schreibt: „Ob es sich beim Kauf einer Immobilie teilweise um eine Konsumausgabe oder vollständig um eine Investition handelt, wird seit einiger Zeit methodisch kontrovers diskutiert.“ 

Und weiter: „Tatsächlich wird seit der von EZB-Chefin Christine Lagarde initiierten Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB diskutiert, ob der konsumtive Anteil einer selbstgenutzten Immobilie im HVPI berücksichtigt werden müßte und wie dies methodisch erfolgen könnte.“ Mit anderen Worten: Die EZB zieht in Betracht, daß einige Bürger Immobilien nicht nur als Geldanlage nutzen. „Zukunftskonsum“ wie es in der Sprache der Wirtschaftswissenschaftler heißt, also Sparen, bleibt demnach in der Diskussion genauso außen vor wie eine Anpassung des Mietanteils und die Brücksichtigung der Steuerkosten.

(Grafiken siehe PDF)