© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Sigmund Freud und das Unbehagen in der Kultur
Hundert Jahre Todestrieb
(ob)

Daß Sigmund Freud vor gut hundert Jahren in einer seiner umstrittensten Arbeiten, jenseits des „Lustprinzips“ (1920), neben den Sexual- und Selbsterhaltungstrieben eine von ihm neu entdeckte Triebgruppe präsentierte, den nach der Wiederherstellung eines früheren unbelebten Zustands strebenden Todestrieb, wollen einige Psychologiehistoriker biographisch erklären: Es sei damals „viel Tod um Freud“ gewesen. Das Massensterben während des Ersten Weltkriegs, die Millionen, die zwischen 1918 und 1920 die Spanische Grippe dahinraffte, der plötzliche Tod seiner Tochter Sophie, zudem seine abergläubische Überzeugung, sein eigener Tod sei seit 1918 überfällig gewesen. Für Timo Storck (Psychologische Hochschule Berlin), der hundert Jahre Rezeption des „Todestriebkonzepts“ Revue passieren läßt (Psyche, 11/20), tritt die Bedeutung solcher Faktoren für das von Freud entworfene Modell der psychischen Struktur des Menschen jedoch entschieden zurück. Gegen sie sprechen die Kontinuität seiner kulturpessimistischen Stellungnahmen, die sich bis 1930 im Essay „Das Unbehagen in der Kultur“ verdichten. Die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, so lautet die Botschaft seiner psychoanalytisch fundierten Kulturkritik, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Am heftigsten hätten marxistische Freudianer wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse widersprochen, da ein als anthropologische Konstante gedachter Todestrieb den Utopismus der klassenlos friedlichen Gesellschaft als solchen entlarvt. Denn jede Kultur werde durch menschliche Destruktivität bedroht, daran ändere auch die marxistische Umverteilung der Güter nichts. 


 www.klett-cotta.de