© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Wenn sich die Kunst in Extremen verliert
Kulturphilosophie: Zu Hans Sedlmayrs quer zum Zeitgeist stehenden Buchklassiker „Verlust der Mitte“
Thorsten Hinz

Mit dem „Verlust der Mitte“ ist dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr eine klassisch gewordene Formulierung geglückt. Tatsächlich ist sein so benanntes, 1948 erschienenes Buch zu einem Klassiker geworden – zu einem Klassiker ex negativo gewissermaßen, denn es stand und steht quer zum Zeitgeist.

Sedlmayr, vor 125 Jahren, am 18. Januar 1896 in Hornstein im Burgenland geboren, ab 1936 Professor für Kunstgeschichte in Wien und später in München, wollte keine pure Streitschrift wider die moderne Kunst verfassen, vielmehr „eine ‘Kritik’ des Geistes, eine Diagnose der Zeit, ihres Elends und ihrer Größe, von der Kunst her“ vorlegen. Er bezog sich darin unter anderem auf Oswald Spengler, Ortega y Gasset, auf Karl Jaspers und den russischen Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew. 

Das Buch geht auf einen bereits 1937 gehaltenen Vortrag zurück. Als Motto vorangestellt ist ihm ein Satz des französischen Naturwissenschaftlers und christlichen Philosophen Blaise Pascal: „Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen.“ Gegliedert ist das Werk in die Abschnitte „Symptome“, „Diagnose und Verlauf“, „Prognose und Entscheidung“.

Ausgangspunkt von Sedlmayrs Überlegungen ist das „sakral gebundene Gesamtkunstwerk“ – die Kirche oder der Palast –, dem die einzelnen Künste bis ins 15. Jahrhundert im Zusammenspiel dienten. Diese Einheit ging sukzessive verloren. Mit der Französischen Revolution werden die Künste gänzlich autonom und konkurrieren miteinander. Sedlmayr war ursprünglich Architekturhistoriker, doch er besaß auch auf dem Gebiet der Malerei, der Bildenden und Gartenbaukunst profunde Kenntnisse. Die Musik und Literatur werden zumindest gestreift.

Gestörtes Gottesverhältnis und Transzendenz-Verlust

In der Phase von 1760 bis 1830 konstatiert er ein „Erkalten der Formen“ im Klassizismus. Es ist eine Strenge gegen sich selbst, die das Chaos, das in den furchtbaren Traumgesichten Goyas und Füsslis an die Oberfläche drängt, zu bändigen sucht. Die nächste Phase sei vom Nebeneinander des Biedermeier und der geheimen Dämonie eines Honoré Daumier geprägt. Dem folgt eine kurze Periode künstlich forcierter Lebenslust, in der Fortschrittsglaube das Düster-Unbewußte noch einmal niederhält.

In der vierten Phase schließlich geht die „Erniedrigung des Menschen“ über in „das Bild des entstellten Menschen“. Die Kunst verliert sich in den Extremen, gleitet ins Anorganische und Chaotische ab, feiert das Primitive, Geisteskranke, das Vor- und Außermenschliche, den Absturz in die Dingwelt. Sedlmayr verdammt den Sprachverlust im Dadaismus, die abstrakte Malerei, den Surrealismus und Futurismus und kritisiert die Hinwendung der Architektur zu geometrischen Formen, zum Kegel und zur Kugel. Als abschreckendes Beispiel nennt er die spektakuläre, auf Stelzen ruhende Villa Savoye (bzw. Villa les Heures Claires), die Le Corbusier 1931 errichtete – und die sich für Wohnzwecke als ungeeignet erwies. 

Keineswegs propagierte Sedlmayr einen historisierenden Eklektizismus als Alternative. Die Schloßbauten des Bayernkönigs Ludwig II. waren für ihn leere Theatralik. Die Gegenüberstellung des mit naturreligiöser Inbrunst angelegten Landschaftsgartens, der die Herrlichkeit Gottes dort ausbreitete, wo er die Erde wüst und leer gelassen hatte, und des modischen, mit exotischen Pflanzen bestückten Erlebnisparks illustriert, was Sedlmayr mit dem Verlust der Mitte meinte: den Verlust des Humanismus, dessen tiefster Grund für Sedlmayr das „gestörte Gottesverhältnis“, der Transzendenz-Verlust, die Selbstüberhebung des modernen Menschen war. „Das ‘Viva la muerte’ der spanischen Revolutionäre könnte auch der Kampfruf der modernen Kunst in dieser verzweifelten selbstmörderischen Phase sein.“

Kunstdebatte während der deutschen Teilung

Das Aufsehen, das sein Buch erregte, war groß, die Reaktionen waren heftig. Die Vertreter der abstrakten Malerei, die im Dritten Reich als „entartet“ gegolten hatten, mußte es empören, daß Sedlmayr ausgerechnet sie als die Agenten des Nihilismus behandelte. Der Maler Willi Baumeister, der sich während der NS-Zeit in die innere Emigration zurückgezogen hatte, verwahrte sich gegen den Vorwurf, in seinem Werk das Göttliche zu negieren. Bereits ein Jahr zuvor hatte er seiner Schrift „Das Unbekannte in der Kunst“ den avantgardistischen Künstler als den Erforscher neuer, ihm selbst noch unbekannter Räume, als einen Gottsucher beschrieben: „Der originale Künstler verläßt das Bekannte und das Können. Er stößt bis zum Nullpunkt vor. Hier beginnt sein hoher Zustand.“ Er ließ es sich in der heftig geführten Debatte nicht nehmen, die Mitgliedschaft Sedlmayrs in der NSDAP zu thematisieren.

Abstrakte Kunst kann ins Transzendentale ausgreifen und die figürliche banal sein. Und umgekehrt. Es war der politische Hintergrund, der dieser ersten großen Kunstdebatte der Bundesrepublik ihre Schärfe verlieh. Die deutsche Teilung hatte – wie der Ost-West-Konflikt insgesamt –  auch eine kulturpolitische und Spaltung der Künste zur Folge. Der Osten legte sich auf den Realismus fest, der das klassische Menschenbild  auf höherer, auf sozialistischer Ebene vollenden sollte. Im Westen wurde die Abstraktion als die Signatur der neuen Freiheit präferiert. Das hieß konkret: Albrecht Dürer und Thomas Mann für die DDR, für die Bundesrepublik Wassili Kandinsky und Franz Kafka.

In der frühen DDR wurde die Abstraktion als Formalismus, die Auflösung der klassischen Formen als Antihumanismus verdammt. Im Westen galt die abstrakte Kunst als das ästhetische Äquivalent zur Westbindung, zum Marshallplan, zur Umerziehung. Ihr Siegeszug wurde durch außerkünstlerische Mächte – allen voran die CIA – massiv gefördert. Die britische Historikerin Frances Stonor Saunders hat dazu in ihrem Buch „Wer die Zeche zahlt“ eine Fülle von Belegen ausgebreitet.

Wie weit die Bedeutung der Debatte über den Bereich der Kunst hinausging, läßt der Katalog zur 1. Documenta 1955 in Kassel erahnen. Der Ausstellungsort, das Museum Fridericianum – ein Bau aus dem 18. Jahrhundert – war im Krieg vollständig ausgebrannt. Die Innenräume wurden mit geringstem Aufwand hergerichtet. Über einen Ausstellungssaal mit roh gekalkten Ziegelmauern heißt es, er symbolisiere „das Fragmentarische der Zeit, das Zerstörtsein … Zeichenhaft steht der Raum für ein neues Werden aus dem Zerstörten: Kein Wiederaufbau, sondern ein Neuaufbau unter Verzicht auf das restaurative Element. Da die moderne Kunst in derselben Situation steht, können Raum und Werk zu einem Ganzen verschmelzen.“ Der modernen Kunst kam eine Pionierfunktion beim geistigen und gesellschaftspolitischen Umbau der Bundesrepublik zu.

In dem Kontext erschien Sedlmayr als der Vertreter der konservativen Restauration. Überdies führte die deutsch-deutsche Konkurrenz zu dem Paradoxon, daß seine Kritik, die einige Berührungspunkte mit der Anti-Formalismus-Kampagne in der DDR aufwies, als Brückenschlag zwischen deutschem Kulturkonservatismus und sozialistisch-realistischer Dogmatik gedeutet werden konnte.

In Zeiten der Biopolitik bleibt sein Buch aktuell

Dieser Satz erscheint bei Sedlmayr gesperrt gedruckt: „(Das) Behaupten der menschlichen Mitte in der neuen und gefährlichen Weite ist das eigentliche Muß für die neue Kunst“. Die Wunden, die in den Materialschlachten zweier Weltkriege millionenfach geschlagen wurden, die Degradation von Menschen zu Muselmanen – auf vegetative Funktionen reduzierte lebende Leichname – im Gulag und im KZ, forderten eine Neujustierung des idealistischen Ansatzes heraus. Viele Künstler, die Sedlmayr verwarf, haben sich auf ihre Weise darum bemüht. 

Sein Buch bleibt trotz mancher Verkennungen aktuell. In einer Zeit, in der die Politik zur Biopolitik wird und über die Implementierung elektronischer Chips in den menschlichen Körper räsoniert wird, wirken die Passagen über die „transhumanistische Stufe“ beziehungsweise den „Transhumanismus“, der zum „Antihumanismus“ führe, geradezu prophetisch. „Das heißt, sie wird den Humanismus nicht nur im oberflächlichen, sondern im tieferen Sinne aufgehoben haben, im Anorganischen verharren und ein Rücklauf, ein ‘ricorso’ zu einer neuen ‘nachmenschlichen’ Primitivität sein.“ Er zitiert Karl Japsers’ Warnung aus dem Jahr 1931 vor einer „Welt vollkommener Glaubenslosigkeit, in ihr die Maschinenmenschen, die sich und ihre Gottheit verloren haben“. 

Vierzig Jahre später, nach der Wiedervereinigung, erfuhr die Sedlmayr-Debatte in der Diskussion um Maler wie Wolfgang Mattheuer, Johannes Heisig und Werner Tübke, die in der DDR gewirkt hatten, eine Reprise. Die – mehrheitlich politisch motivierten – Kritiker hielten ihre figürliche Malerei für biedere Staatskunst; ihre Verteidiger sahen darin eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Höllenfahrten des 20. Jahrhunderts von hohem Rang. Am Ende stand die glänzende Rehabilitierung der Genannten. Hans Sedlmayr, der 1984 gestorben war, hätte sich gewiß darüber gefreut.