© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

CD-Kritik: Maurice Ravel
Auf der Schwelle
Jens Knorr

Ganz ohne den äußeren Anlaß eines Jubiläums hat Produzent Philippe Pauly ältere und neuere Aufnahmen aus dem Warner-Katalog, nach Werkgruppen geordnet, zum Gesamtwerk von Maurice Ravel gebündelt. Die 21-CD-Box bietet hinsichtlich der totgespielten Repertoirestücke – seien es „Boléro“, „La Valse“, „Rapsodie espagnole“ oder Ravels Orchesterbearbeitung von Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ – des impressionistischen Klassizisten auf der Schwelle zur Moderne wenig, jedoch insonderheit in den Werkgruppen Kammermusik, Mélodies und Transkriptionen reichlich Überraschendes. Jedes der Stücke scheint aus einer Zukunft auf Ravels großbürgerlich-aristokratische Oberschicht zurückzublicken, die weder sie noch er je erleben würden.

Unter all den namhaften Interpreten findet sich kein Unberufener. Historische Aufnahmen mit Ravel am Klavier, überliefert auf Notenrollen, seiner Freunde und Interpreten unter Dirigat oder Beaufsichtigung des Komponisten, locker und leicht geschlagen, scheinen den fragenden, absichtsvoll zufälligen Gestus der Kompositionen ausstellen zu wollen. Diametral dazu die orgiastische Aufnahme von „La Valse“ unter Pierre Monteux von 1919/20, die alles andere als totgespielt klingt. Was immer dem, so Adorno, „traurigen Kinde“ Ravel zu sublimieren gelang: Monteux läßt es ausposaunen.

Maurice Ravel Das Gesamtwerk Warner 2020  warnerclassics.com