© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

Sie haben die Maske nicht richtig auf!“ Der Kommentar des mir entgegeneilenden jungen Mannes (selber ohne Maske), da ich gerade aus der Bank heraustrete, irritiert mich nachhaltig. Doch warum auch nicht? Schließlich ist „Sustainability“ das Zauberwort der Zukunft. Dieses Prinzip demonstrieren geradezu stoisch die Gezeiten und die Gravitation, eingebettet ins Himmelszelt. Am oberen Ende des Sportfeld-Zauns auf dem Helmholtzplatz kündet im neuen Jahr ein Transparent: „Oh Tannenbaum / > 20.000 Ertrunkene im Mittelmeerraum.“ Arrondiert wird diese Botschaft in den umliegenden Straßen von zahllosen Anschlägen des Aktionsbündnisses „# Berlin against borders“ mit der finalen Botschaft: „Wir fordern die Schaffung sicherer Fluchtwege und die konsequente Gewährleistung des Menschenrechts auf Asyl!“ – mein flüchtiges Auge liest „Gefährdungsleistung“. Auch hier hilft die Dialektik weiter: Wer diese Forderung nach offenen Grenzen erhebt, kann ja nicht ganz dicht sein. Dichter dran zu sein, hieße vielleicht, Dichtung und Wahrheit besser auseinanderzuhalten. Erstere wartet hier mit einigen Aphorismen von Jürgen K. Hultenreich auf, wie: „Das Meer beruhigt, weil es sich bewegt.“ oder „Kain und Abel haben bewiesen / daß alle Menschen Brüder sind.“ Und geradezu prophetisch: „Der Deutsche an sich poliert am Wochenende seinen verordneten Maulkorb.“ Allesamt erschienen in Hultenreichs Aphorismenband „Ziele stehen im Weg“ (Vorwerk 8), der auch zum Jahresbeginn 2021 ein ideales Geschenk ist, da sich keine kurzweiligere wie geistreichere Lektüre denken läßt.


Fast so alt wie diese Publikation sind – wie ich gerade „realisiere“ – meine bislang unveröffentlichten Zeilen von Anfang 2017, etwa der an die damalige Trump-Kampagne angelehnte spielerische Spruch „Fake America / hate again“ und der Blick auf die seinerzeit kopflose deutsche Politik: „Nicht, daß Trump uns nichts böte / Köstlich all die Erklärungsnöte / In deutschen Landen / Kommt der Hegemon abhanden.“ Auch die Gender-Stern-Singer flüsterten mir seinerzeit etwas Weihnachtliches ins Ohr: „Paulchen (Panther) denkt an seinen Bauch / Mutter sein, das will er auch / ‘Am Heiligabend bin ich dran? / Dann ändere ich mein Programm: / Heute ist nicht alle Tage – / Ich komm’ nieder, keine Frage!’“ Doch dann? Die irische Kneipe in der Straße wirbt auf der Kreidetafel mit dem Spruch „Dogs welcome inside … Please tie children to post out front“. Entsprechend geängstigt und gehetzt erscheint kurz darauf das Gesicht des an mir vorbeihuschenden erwachsenen Oskar Matzerath (David Bennent). Aber vielleicht ist es nur eine Verwechslung.