© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Unzufrieden und entwurzelt
Deutsch-jüdische Identitätskrisen: Zum Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“
Artur Abramovych

Masel Tov Cocktail“ ist ein Kurzfilm von 30 Minuten Länge, der im Öffentlich-Rechtlichen ausgestrahlt wurde, und jetzt noch in Mediatheken abrufbar ist. Schon der an den Molotov-Cocktail anklingende Titel soll zum einen die humoristische Manier des Films, zum anderen den Fokus auf das heutige deutsche, ganz überwiegend aus der ehemaligen Sowjet-union immigrierte Judentum aufzeigen.

Der Film handelt von Dima, einem jüdischen Abiturienten im Ruhrgebiet, der einem deutschen Mitschüler, von dem er antisemitisch beleidigt worden ist, die Nase bricht und dazu aufgefordert wird, sich bei ihm zu entschuldigen; er endet damit, daß unser Held, dem angedroht worden ist, an der Abifahrt nicht teilnehmen zu dürfen, und der deshalb nachgegeben und sich auf die Suche nach dem nun Stolpersteine schrubbenden Mitschüler begeben hat, buchstäblich über letzteren stolpert; da dieser allerdings, statt die Entschuldigung anzunehmen, lieber fortfährt mit antisemitischen Witzen, verprügelt ihn Dima ein zweites Mal. Die Rahmenhandlung ist mithin ein Konflikt zwischen Neigung und Pflicht.

Sie liefert allerdings nur den Vorwand ab für einen Parforceritt durch Dimas Leben, das sich hauptsächlich in einer Plattenbausiedlung abspielt. Dima klagt dem Zuschauer sein Leid darüber, daß sein jüdisches Umfeld von ihm verlangt, sich eine Jüdin zu nehmen, obwohl er seine deutsche Freundin Michelle so gern hat; er klagt darüber, daß die erinnerungskulturell konditionierten Philosemiten in ihm nur das Opfer der Shoah sehen möchten; und schließlich klagt er auch über jene Deutschen, die in ihm den Israeli sehen und wieder auf Deutschland stolz sein möchten. Daß sein eigener Großvater, ein überzeugter Nationaljude, sich, wie Dima zufällig an einem Wahlkampfstand erfährt, als für die Positionen der AfD durchaus offen erweist – darüber zu klagen vergißt Dima auch nicht.

Über möglichst vieles zu klagen ist gute jüdische Tradition. Und das an Woody Allens frühe und mittlere Schaffensphase erinnernde Durchbrechen der vierten Wand mit den an den Zuschauer gerichteten Monologen, ebenso die komischen Musikeinlagen und Traumsequenzen, atmen ebenfalls einen jüdischen Geist. Der Zuschauer ist zu keinem Zeitpunkt peinlich berührt; die schauspielerischen Leistungen sind solide.

Abgesehen von einigen gelungenen Figurencharakterisierungen, insbesondere des typischen linken, oft weiblichen Philosemiten, der außerstande ist, auch nur das Wort „Jude“ auszusprechen (dargestellt von der Komikerin Petra Nadolny), macht der Film allerdings, trotz gegenteiliger Bestrebungen, in Sachen des politischen Verismus doch noch auf halber Strecke halt, und zwar wohl aus Rücksichtnahme auf seine Financiers vom Öffentlich-Rechtlichen. Vom grassierenden islamischen Antisemitismus erfahren wir nur durch die als wirr dargestellte Brille der auftretenden AfD-Anhänger; er scheint in Wirklichkeit gar nicht zu existieren. Vom linken Antizionismus ist gar nicht die Rede; wenn man keine anderen Quellen als diesen Film besäße, könnte man meinen, daß Deutschland das proisraelischste Land der Welt sei.

Der Israelbezug taucht im Film überhaupt nur bei Zionisten auf, sowohl jüdischen als auch nichtjüdischen: von den linken Philosemiten (die irrigerweise als Zionisten dargestellt werden, obwohl sie es heutzutage nur noch selten sind) und der politischen  Rechten (die ehrlicherweise als proisraelisch dargestellt wird) bis hin zu den jüdischen Nationalisten, dem bereits erwähnten Großvater etwa, oder Vlad, einem pathologisch ängstlichen Freund Dimas, der ihn ermahnt, keine arabischen Imbisse aufzusuchen, weil das dort erwirtschaftete Geld an Islamisten fließe. Die wirklichen Erfahrungen, die jüdische Jugendliche heutzutage in Deutschland zu machen gezwungen sind, das Mobbing durch muslimische Mitschüler sowohl als auch die Anfeindungen durch linke Pädagogen, die einem vor versammelter Klasse die neuesten Beschlüsse des israelischen Ministerpräsidenten vorhalten, finden sich im Film nirgends; stattdessen sehen wir nur einen antisemitischen deutschen Mitschüler.

Was der Junge will, weiß er selbst nicht

Erfreulich ist, daß die vor allem in den Neunzigern aus der ehemaligen Sowjetunion immigrierten Juden nun ein cineastisches Gesicht bekommen. Sowohl der Regisseur Arkadij Khaet (Jahrgang 1991) als auch der Hauptdarsteller Alexander Wertmann (Jahrgang 1997) entstammen dieser mit Abstand größten Gruppe innerhalb des deutschen Judentums. Beide sind bzw. waren Stipendiaten des linken, steuerfinanzierten jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks, und daher handelt es sich bei der Perspektive, die die Macher des Films einnehmen, um eine sogenannte „diasporistische“, mithin eine dezidiert nicht-zionistische.

Das Problem des Diasporismus, einem linken Importprodukt von der amerikanischen Ostküste, besteht darin, daß er am Ende zwangsläufig in eine identitäre Sackgasse mündet, da er einerseits die Dissimilation und damit das Aufbrechen einer (aus unserer Sicht ohnehin nicht mehr existenten) „Leitkultur“ propagiert, andererseits aber auch die Identifikation mit dem einzigen jüdischen Staat ablehnt. So stellt er ein unglückliches Weder-Noch dar und läßt einen jeden seiner Jünger zu einem chronisch unzufriedenen Entwurzelten mutieren, dem man es nie recht machen kann. Es stellen denn auch sowohl die deutschen als auch die jüdischen Konservativen aus Sicht Dimas schon allein deswegen Trottel dar, weil sie eine affirmative Haltung zur eigenen Identität einnehmen.

Die kleine deutschsprachige zionistische Gemeinschaft betont seit Jahrzehnten, daß die sogenannte Erinnerungskultur im Grunde eine Einrichtung von Deutschen für Deutsche ist, den lebenden Juden nichts nützt, weil hierzulande Juden desto mehr Konjunktur haben, „je toter sie sind“ (Henryk Broder), und die in Rede stehenden Veranstaltungen längst zu „Deutschlands beliebtester Seifen-Oper“ (Chaim Noll) degeneriert sind. Dima stimmt dieser Einschätzung einerseits zu, wenn er sich über Philosemiten und Stolpersteine mokiert; andererseits bezeichnet er aber zugleich AfDler als „die neuen Nazis“ und läßt sich keineswegs davon umstimmen, daß die politische Rechte den Israelbezug des Neuen Antisemitismus thematisiert, das Judentum als Volk interpretiert und Juden daher grundsätzlich mit dem Staat Israel assoziiert; er sieht all das, als Diasporist, im Gegenteil als antisemitisch an.

Was Dima recht eigentlich will, weiß er selbst nicht. Er will sich nicht eingehender mit dem Judentum beschäftigen, das er allenfalls als Folklore, nicht aber als Volk betrachtet, identifiziert sich auch nicht mit Israel. Deutschland kann er aber auch nicht leiden. Was an dieser Figur durchexerziert wird, ist die um jeden Preis insurgente, infantile Haltung desjenigen, der unter keinen Umständen der werden will, der er tatsächlich ist.

Und so zeigt dieser Kurzfilm ungewollt auf, daß Dimas Großvater, der AfD-Anhänger, am Ende recht behält, wenn er, direkt in die Kamera und mit starkem russischen Akzent, erläutert: „Mein Enkel meint es nicht so. Er ist noch zu jung. (…) Hören Sie nicht auf Dimotschka, kommen Sie lieber in unsere [sic] Gemeinde vorbei.“ Und diese Gemeinde ist zweifelsohne orthodox; dort gibt es nämlich keine Diasporisten.

Der Film ist bis zum 13. Februar in voller Länge in der Arte-Mediathek abrufbar.  www.arte.tv/de