© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Aus Holz gedrechselt
Gründerzeit: Das Selbstbewußtsein der Aufschwungjahre spiegelt sich auch in seinem Mobiliar
Martina Meckelein

Mehrere Zentner massives, sattschimmerndes Nußbaumholz. Geschnitzte und gedrechselte Handwerkskunst in seiner höchsten Vollendung. Ein Buffet von Julius Groschkus. Es entstand um 1880 in Berlin. 161 Zentimeter breit, 78 Zentimeter tief und 2,29 Meter hoch. Das Buffet steht im Souterrain eines alten Hauses in der Kluckstraße in Berlin-Tiergarten. Vier Treppenstufen führen in das Antiquitätengeschäft von Hermann Schmutzler. Hinter der zweiten, inneren Eingangstür öffnet sich ein anderes Jahrhundert, ein anderes Lebensgefühl. Der Boden ist mit alten Teppichen ausgelegt. Jahrhundertwendeleuchter hängen von den Decken. Vertikos, Schränke, schlanke hohe Standuhren stehen für den Besucher Spalier. Nähtische und zierliche Frisierkommoden füllen die kleinste Ecke aus. Überall Nippes, Bilder, Spiegel. Im „Gründerzeitkeller“ scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.

„Groschkus war einer der berühmtesten Möbelschreiner der Gründerzeit“, erklärt Schmutzler. Seit 34 Jahren beschäftigt sich der Mann mit den grauen lockigen Haaren hauptsächlich mit der Restauration und dem Verkauf von Gründerzeitmöbeln. Er gilt auch unter seinen Kollegen Antiquitätenhändlern als eine Koryphäe, wenn es um Gründerzeitmöbel geht. „Zwar hatte Groschkus, wie so viele, eine Großtischlerei, mit der er Möbel für die breite Masse herstellte, aber er lieferte eben auch Möbel an den Hof des deutschen Kaisers und des Königs von Preußen Wilhelm I. und später auch Wilhelm II. Und er war einer der wenigen, die ihre Möbel zur Zeit des Historismus signierten, entweder mit Stempel oder mit Messingschildern.“

Repräsentationsstil des wohlhabenden Bürgertums

In wissenschaftlicher Literatur findet der Begriff Gründerzeit wenig Beachtung. Die Bereitschaft, ihn zu benutzen, sei vielmehr unter den Kunst- und Antiquitätenhändlern zu finden, heißt es in dem Buch „Gründerzeit-Möbel“ des Kunsthistorikers Rainer Haaff. Er bezeichne in dieser Verwendung einen deutschen Möbel- und Wohnstil des späten 19. Jahrhunderts. „Das Spannende an der Gründerzeit ist, daß sie verschiedene vergangene Epochen kombiniert“, sagt Schmutzler. „Man griff auf alte Formen zurück.“ So entstanden dann kurz hintereinander oder sogar zur selben Zeit Neogotik, Neobarock, das Neorokoko und die Neorenaissance. Letztere wurde mit der Deutschen Kunst- und Industrieausstellung 1876 in München stilbildend. „Die Menschen, die in den Häusern der Gründerzeit mit ihren prunkvollen, repräsentativen und aufwendigen Fassaden lebten, brauchten nicht nur ebensolche Wohnungsgrundrisse, sondern auch das dazu passende Interieur.“

Die Wandlung vom Agrarstaat zur führenden Industrienation mit einem neuen starken Selbstbewußtsein wurde eben nicht nur in Stein gemeißelt, sondern auch aus Holz gedrechselt. „Auf den Fotografien können wir noch sehr genau erkennen, wie die Menschen lebten“, sagt Schmutzler. „En vogue waren schwere, wuchtige Buffets, große Schränke und Sessel, Samt- und Brokatvorhänge, dunkle Holzvertäfelungen an Wand und Decken, riesige Petroleumlampen mit auffälligen Ornamenten.“

Die Möbel und Dekorationsartikel waren aus edlen Hölzern und Stoffen. „Insofern ist ein Möbel aus der Gründerzeit auch selten eine Replik oder Fälschung“, sagt Schmutzler. „Der Aufwand, diese Möbel zu fälschen, diese korinthischen und ionischen Kapitelle, die kleinen Säulengalerien und die Muschelaufsätze nachzuahmen, all das wäre enorm teuer. Ein Biedermeiermöbel dagegen mit seinen großen, glatten Flächen und geringen Verzierungen ist viel einfacher zu fälschen.“

Dieser Repräsentationsstil des wohlhabenden Bürgertums machte Mode. „In der Zeit wollten alle Bevölkerungsschichten sich mit diesem Möbelstil einrichten“, erklärt Schmutzler. Für den mittleren bis kleinen Geldbeutel gab es Möbel wie zum Beispiel das Vertiko. Das Minibuffet für den kleinen Mann sozusagen. Das Vertiko – der Name könnte von dem Berliner Tischlermeister Otto Vertikow stammen, allerdings könnte er sich auch auf die vertikale Ausrichtung des Möbels beziehen; man weiß es einfach nicht. Ein Vertiko ist höher als eine Kommode, allerdings niedriger als ein Schrank, rund 1,47 Meter hoch. Es hat zwei Türen, eine quer darüberliegende Schublade und einen, heute leider meist fehlenden, Aufsatz mit integriertem Spiegel, um Nippes daraufzustellen. „Diese Möbel waren in großer Stückzahl aus Weichholz hergestellt und wurden dann, um Furnier vorzutäuschen, nußbaumfarben gebeizt.“

Massenhafte Herstellung von Billigvarianten

Diese Billigvarianten sind heute noch, vielfach abgelaugt, auf Flohmärkten für Preise um 200 Euro zu erstehen. Teurer waren da schon die ebenfalls industriell, aber mit Echtholzfurnier und gedrechselten Säulen meist in Nußbaum, dem Trendholz der Gründerzeit, gefertigten Tische und Schränke. In einem Katalog der Möbelfirma Höffner aus dem Jahr 1895 sind folgende Preisangaben zu lesen: „Buffet echt Nußbaum mit schwerer Schnitzerei, aufgehenden Lisainen, innen Eiche mit englischen Zügen – 340 Mk“. Eines aus Eiche kostete 310 Mark, ein Tisch mit vier Zügen (ausziehbar auf 3,62 Meter) kostete 120 Mark, acht Lederstühle des Speisezimmers „Heidelberg“ 116 Mark. Zum Vergleich: 1891 verdiente ein Feldwebel 73 Mark im Monat, ein Arbeiter 58 Mark.

Die massenhafte Herstellung der Billigversionen der Gründerzeitmöbel machte ein schon Jahrzehnte andauernder Prozeß, der mit der Aufhebung der Zünfte durch Napoleon Bonaparte und der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen 1810 begann, erst möglich. Durch die Reichsgründung wurde die Preußische Gewerbeordnung von 1869 ab 1871 für das gesamte Reich bindend. Neue Technologien in der Holzverarbeitung, nämlich kleine Antriebe für Kreissägen, Hobel- und Fräsmaschinen, ermöglichten die industrielle Massenproduktion von Möbeln. Der sogenannte „Berliner Schund“ überschwemmte den Markt. Die Eisenbahn transportierte ihn durch ganz Deutschland.

Allerdings zeigt sich gerade bei den Gründerzeitmöbeln, daß der Spruch, man könne das Rad nicht neu erfinden, falsch ist. Das Sperrholz wurde als Holzwerkstoff wiederentdeckt. Mindestens drei Lagen trockenes Furnierholz werden kreuzweise übereinandergelegt, verleimt und mit Druck und Hitze aufeinandergepreßt. Das ist nicht zu verwechseln mit Bugholz, ein Verfahren, das Thonet erarbeitete. Dabei handelt es sich um Vollholz, das erst gekocht und dann unter Wasserdampf und Druck zwei- und dreidimensional geformt wird.

„Momentan erleben die Preise im Antiquitätenhandel eine Ruhephase, nicht nur, aber natürlich auch durch Corona“, sagt Schmutzler. „Ausgefallene Sammlerstücke, wie Uhren von Lenzkirch oder eben solch ein Buffet von Julius Groschkus, steigen im Wert. Ein fünfstelliger Betrag muß da gezahlt werden.“