© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Ein Traum für 280 Mark kalt
Stuttgart-West: Leben in einem Gründerzeitviertel
Martina Meckelein

Zwei Zimmer, zwei Balkone, Stuck an der Decke, zentral gelegen. Für eine Studentin auf Wohnungssuche ist das noch heute wie ein Sechser im Lotto. 280 Mark kalt sollte sie kosten. Der Preis hielt sein Versprechen: Warm wurde sie in den kommenden drei Jahren niemals. Dagegen sprachen nicht nur die teils 60 Zentimeter dicken Ziegelmauern oder die drei Meter hohen Decken und der kaputte Kohleofen, sondern mein ebenfalls stets klammes Portemonnaie. Trotzdem: Ohne Frage war meine erste eigene Wohnung ein Traum.

Ich zog also mit einem Koffer und einem Regenschirm in den Stuttgarter Westen. Was ich damals, als Hamburgerin, nicht wußte: Er beherbergt die größte zusammenhängende Gründerzeitbebauung, die es in Deutschland noch gibt. Ein wahrer Bauboom explodierte hier ab den 1850er Jahren. Die Flächen westlich des Rotebühlplatzes bis hoch zum Vogelsang wurden kleinteilig parzelliert, Häuser in Straßenrandbebauung hochgezogen. In den großen Innenhöfen hatten zwei bis vier einfache, bis vier Stockwerke hohe Häuser noch Platz.

Kohlenstaub und feuchte Wände

Meine Wohnung mit 66 Quadratmetern lag in der ersten Etage in einem Arbeiterhaus im Hinterhof. Die halbverglaste, halb mit Sperrholz zugenagelte Wohnungstür erschloß sich mit einem riesigen Bartschlüssel. Das achteckige Wohnzimmer hatte ein riesiges Fenster und eine Glastür zum halbrunden Balkon. Die ehemals sonnengelb bemalten, rauhfasertapezierten Wände waren schwarz gesprenkelt; wo zwei Wände sich im rechten Winkel an der Decke trafen, war der Kohlenstaub mit der Feuchtigkeit, die bisweilen wie Tränen von den Wänden lief, eine innige Beziehung eingegangen. In der Küche stand eine elektrische Pumpdusche, deren Zulauf am Anschluß für die Waschmaschine angeflanscht war. Wenig fachmännisch, wie sich nach zwei Jahren und einem immer größer werdenden Fleck an der Decke der darunterliegenden Wohnung herausstellen sollte. Ein Gründerzeithaus bedarf eben manchmal der Improvisation und des Verständnisses.

Der Erwerb passender Gründerzeitmöbel zum Nulltarif setzte eine solidarische Hausgemeinschaft voraus. Mindestens zu sechst ging es abends auf Sperrmülltour; über 100 Jahre alte Buffets wiegen ordentlich. Die Nachbarschaftshilfe hatte Erfolg: War ich nur mit einem Koffer und einem Regenschirm eingezogen, hatte ich mit viel fremder Hilfe und Unterstützung nach drei Jahren endlich eine voll eingerichtete Wohnung.