© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Von der Zündkraft einer großen Idee
Dokumentation: Der Aufsatz „Die Deutschen: Nation unter Nationen“ erschien zum hundertsten Jubiläum der Reichsgründung
Günter Zehm

Es macht einige Mühe, hinter dem gigantischen Vexierbild der Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles die Konturen jenes großen geschichtlichen Ereignisses zu entdecken, das – allem Augenschein nach zum Trotz – am 18. Januar 1871 wirklich und tatsächlich über die Bühne ging. Das Vexierbild: Die deutschen Fürsten schließen wieder einmal einen Bund, sie wählen den immer noch zweifelnden und widerstrebenden König von Preußen zum deutschen Kaiser. Das feudale Gepränge, das sie bei dieser Gelegenheit entfalten, weist schon deutlich einen Zug ins Anachronistische auf – ein Schattentanz.

Das wirkliche Ereignis: Als letztes der großen, alten kontinentalen Völker, die die Kultur Europas entscheidend geprägt haben, werden die Deutschen eine moderne Nation, nach den Franzosen, Spaniern, Italienern. In der Mitte Europas entsteht ein stabiler Sozialverband mit einheitlicher Sprache, einheitlicher Währung, einheitlicher Außenpolitik. Das Zeitalter dynastischer Bruderzwiste ist endgültig vorbei, das imperialistische Konzert der Großmächte kann beginnen.

Innerhalb des neuen Deutschen Reiches gibt es im Grunde nur zwei Sieger: das nationalliberale Bürgertum und die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Für das Bürgertum geht sein alter Traum der deutschen Einheit in Erfüllung. Wie alle erfüllten Träume ist er nicht frei von Schönheitsfehlern: „Verpreußung“, Obrigkeitsstaat, Militaristendünkel. Aber die Begeisterung überwiegt. Graf Bismarck, der Architekt der Reichsgründung, Sohn eines kleinen preußischen Junkers und einer bürgerlichen sächsischen Professorentochter, ist der Mann der Nationalliberalen. Die meisten Achtundvierziger-Revolutionäre werden, sofern sie nicht nach Amerika ausgewandert sind, auf ihre alten Tage „Bismarckianer“, wie Ferdinand Freiligrath.

Die SPD entwickelt sich zu einer mächtigen Partei

Für die Sozialdemokraten ergibt sich zunächst eine zwiespältige Lage. Vor allem sie haben unter der Beschneidung der Bürgerrechte im neuen Reich zu leiden. Bismarcks repressive Sozialistenge-setze kündigen sich an. Andererseits ermöglicht jetzt die großzügige, von aller Kleinstaaterei befreite Ökonomie eine straffe Organisation der rasch wachsenden Arbeiterschaft. Die SPD weiß die Vorteile der gesamtdeutschen Situation gut zu nutzen und entwickelt sich zu jener mächtigen, in der ganzen Welt bewunderten Partei, die jenseits der Grenzen als nicht weniger „preußisch“ und „bismarckisch“ empfunden wird als Bismarck selbst.

Aber das neue Reich wird von den deutschen Arbeitern keineswegs nur als günstiges Organisationsglacis erkannt und anerkannt. Sie fühlen sich dort auch durchaus zu Hause, und wenn sie gegen Militarismus, Fürstentümelei und Nationalismus kämpfen, so tun sie das nicht als potentielle Separatisten, sondern ausdrücklich als deutsche Republikaner, allenfalls als überzeugte Internationalisten. Während man sich in bürgerlichen Kreisen oft und gern noch als „Preuße“, „Bayer“ „Sachse“ oder „Pfälzer“ vorstellt, spielen solche Unterscheidungen in der Arbeiterschaft keine Rolle mehr.

In dieser Tatsache spiegelt sich ein Sachverhalt, der merkwürdigerweie ausgerechnet vom Marxismus, der „Theorie der Arbeiterklasse“, lange Zeit theoretisch fast gänzlich ausgespart wurde: daß nämlich die Prozesse der Nationwerdung eines Volkes von Anfang an mit der sozialen Emanzipation von Unterklassen verbunden sind. Die marxistische Theorie (bis hin zu Lenin) war so einseitig an das Verhältnis von Kapital und Arbeit fixiert, daß sie es nie fertigbrachte, brauchbare und von ihren Prämissen her logisch begründete Denkkategorien zur Analyse der zahlreichen nationalen Befreiungsbewegungen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert bereitzustellen.

Für die sozialistische Praxis hatte das verhängnisvolle Folgen. Die von Lenin und Trotzki erhoffte proletarische Weltrevolution blieb aus, die nach 1918 in ganz Europa freigesetzten revolutionären Energien ergossen sich in den Nationalismus, weil sich die deutschen, tschechischen, ungarischen, polnischen Arbeiter eben in erster Linie als Deutsche, Tschechen, Ungarn oder Polen empfanden.

Damals formulierte der Präsident des neugebildeten Vielvölkerstaates Tschechoslowakei, Thomas G. Masaryk, in seinem großen Buch über die Weltrevolution das Credo der Epoche: „Die Nationen sind die natürlichen Organe der Menschheit. Die Menschheit ist eine Organisation von Nationen. Je nationaler, desto menschlicher, je menschlicher, desto nationaler.“

Masaryk wiederholte damit nur, wovon auch das neunzehnte Jahrhundert – bei allem gleichzeitigen Kosmopolitismus – fest überzeugt war. Napoleon, Erbe und Exekutor der Revolution von 1789, die den Anfang des modernen nationalen Gedankens bezeichnet, im Jahre 1812 in einer Rede an die Abgeordneten des polnischen Bundes: „Die Vaterlandsliebe ist die erste Tugend des zivilisierten Menschen.“

Dieser zivilisierte Mensch qua Patriot, den die Große Revolution und Napoleon im Auge hatten, war bewußt abgehoben vom Untertanen der feudalen Epoche mit seinen familien- und stammesbedingten Loyalitäten. Das Vaterland sollte an die Stelle personal erkennbarer Herrschaft treten, und im Vaterland sollte der Untertan von einst sich selbst wiederfinden, seine Sprache, seine Ehre, seine Freiheit, sein Recht als Bürger.

Die Idee des Vaterlands war für den kleinen Mann mithin weit attraktiver als für den Herrn, der durch seine Bildung viel leichter in fremden Weltgegenden Wurzeln schlagen konnte. Der kleine Mann benötigte das Vaterland, die Nation geradezu, um die in der Revolution errungene Freiheit realisieren zu können. Aus dieser Konstellation rührt das plebejische Flair eines jeglichen Patriotismus, sein Appell zur ständigen „levée en masse“, seine unwiderstehliche Attraktion für unruhige, emanzipationsbereite Massen. 

Keine Idee seit 1789 hat eine auch nur entfernt vergleichbare Zündkraft gehabt wie die Idee der Nation. Andere große gesellschaftliche Ideen haben sich ihr anpassen müssen, um (deformiert) zu überleben, so die Idee Amerikas als eines Pionierlandes der „offenen Grenzen“, so die Idee der Sowjetunion als eines „Vaterlandes aller Werktätigen“. Amerikanischer Patriotismus und Sowjetpatriotismus sind heute nichts weiter als besonders leidenschaftliche Ausprägungen des nationalen Gedankens, und durch die „nationalsozialistischen Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt entstehen immer neue Nationen nach klassischem Muster. Die alten Nationen Europas wurden unterdessen von nationalistischem Überschwang halbwegs geheilt, aber auch ihr soziales Leben spielt sich noch unverändert in festumrissenen nationalen Grenzen ab. Keine Europaidee, kein intensives gegenseitiges Sichkennenlernen vermochten dagegen etwas auszurichten.

Die Welt ist im Augenblick noch nicht reif für postnationale Gesellschaften, und ein weltoffener, von jeglicher Aggressivität freier Patriotismus scheint deshalb die angemessene Form des aufgeklärten politischen Bewußtseins zu sein. Doch hundert Jahre nach der Reichsgründung haben die Deutschen beträchtliche Schwierigkeiten bei der Kultivierung eines aufgeklärten Nationalbewußtseins. Der Chor der Stimmen, die nationalen Nihilismus predigen, überwiegt hier. Sie gleichen einem Kind, das bei der Schulspeisung das schlechteste Stück Brot abbekommen hat und nun hartnäckig behauptet, es gäbe gar keine Schulspeisung. (…)

Kaum verwundern kann auch der nationale Nihilismus gewisser Altkonservativer in der Bundesrepublik, die romantischen Träumen aus der Zeit der Metternich-Ära nachhängen und die es immer noch nicht verwunden haben, daß diese Ära 1871 zu Ende ging. Für sie war der Tag der Reichsgründung gewissermaßen die deutsche Erbsünde, sie behaupten (in einer Anwandlung von umgedrehtem Nationalismus), die Deutschen taugten nun einmal nicht zur Nation, sie sollten stattdessen die föderale Qualle der früheren Kleinstaaterei neu beleben – als Modell eines föderalistischen Europas, das ja eines fernen Tages doch kommen müsse. (…)

Der nationalen Frage ist nicht zu entkommen

Der psychologische Zwang zu derlei Denkspielen ist verständlich. Deutschland liegt mitten im Kraftfeld zweier Weltmächte und zweier rivalisierender Gesellschaftssysteme, jedes nationale Ereignis von einiger Bedeutung hat sofort Konsequenzen für das internationale Gleichgewicht der Kräfte, die deutsche Politik sieht sich einem permanenten Streß ausgesetzt. Fast zwangsläufig mußte früher oder später die Frage auftauchen, ob nicht der Verzicht auf jegliche nationale Politik Entlastung und Atempause verschaffen könnte.

Aber wenn die Zeichen nicht trügen, dann scheint die deutsche Politik just in diesen Tagen die Erfahrung zu machen, daß sie der nationalen Frage in keinem Falle entkommen kann. Gerade ihre auf den Verzicht nationaler Positionen abzielenden Schritte haben sie bei ihren Verbündeten in den Verdacht gebracht, einem neuen, unterschwelligen Nationalismus zu huldigen, sich peu à peu zum Vorreiter „zentraleuropäischer“ Lösungen zu machen. Die unauflösliche Verbindung von deutscher und europäischer Frage bestätigt sich auch insofern, als jede neue Nuance auf der europäischen Szene auch neue Perspektiven für die Zukunft Deutschlands als Nation eröffnet, Perspektiven, die sofort ein politisches Eigengewicht erhalten, die durchgerechnet werden müssen und ins strategische Kalkül der verschiedensten Mächte einfließen. 

Keine Rede kann also davon sein, daß die Idee der Nation im mitteleuropäischen Raum seit 1945 nicht mehr virulent sei, im Gegenteil, sie beeinflußt hier das soziale Leben besonders nachhaltig, ja sie akkumuliert sogar sozialrevolutionäre Sprengkraft. (…)

(Quelle: Die Welt, 16. Januar 1971)





Günter Zehm muß den Lesern der JUNGEN FREIHEIT nicht vorgestellt werden. Von 1995 bis zu seinem Tod im November 2019 (JF 46/19) schrieb er für uns unter anderem seine legendäre wöchentliche  „Pankraz“-Kolumne, mit der er den  Kulturteil der JF bereichert hat. Vor dieser Zeit konnte er bereits auf eine lange journalistische Karriere bei der Tageszeitung Die Welt zurückblicken, für die er zuletzt als stellvertretender Chefredakteur tätig war. Als Kulturchef zeichnete er für deren Wochenendbeilage „Geistige Welt“ verantwortlich. Dort erschien am 16. Januar 1971 ein Artikel zum 100. Jahrestag der Reichsgründung, aus dem wir nachfolgend Auszüge drucken. Um seine Stoßrichtung zu verstehen, muß man nicht nur bedenken, daß Zehm zum damaligen Zeitpunkt kaum als Mann der Rechten, eher als Mann der Mitte galt, sondern auch, daß kurz zuvor eine Fernsehansprache des amtierenden Bundespräsidenten Gustav Heinemann zum Gründungsjubiläum der Nation zu massiven Debatten in der Bundesrepublik geführt hatte, weil sie als Absage an den Gedanken der deutschen Einheit verstanden werden konnte.