© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Eine deutsche Sache
Die Reichsgründung 1871 mit „Blut und Eisen“ ging nicht nur von den Herrschenden aus / Großer Rückhalt vieler Deutscher innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen
Karlheinz Weißmann

Wenn man unter nation building die Formierung einer Nation durch den Staat versteht, könnte man die Reichsgründung von 1871 als Musterbeispiel betrachten. Ohne Zweifel entstand das „Zweite Reich“ durch einen Akt „von oben“: Diplomatisches Geschick und der Einsatz militärischer Mittel gaben den Ausschlag. Schon der Zeitgenosse mochte sich an die Hoffnung des Historikers Johann Gustav Droysen erinnern, Preußen werde zum „Makedonien“ Deutschlands. So wie der Makedonenkönig Philipp von seinem streng zentralisierten Kriegerstaat aus die in zahllose poleis zersplitterten Griechen zur Einheit gezwungen hatte, so war Preußen vorgegangen, um Deutschland zur Nation zu schmieden.

Allerdings hat die Vorstellung, man könne Nationen via nation building „machen“, in den letzten Jahrzehnten hinreichend oft ihre Unbrauchbarkeit bewiesen. Weder in Afrika noch in Asien oder Osteuropa ist gelungen, eine Nation dadurch ins Leben zu rufen, daß man ein Zentrum mit Gewalt- und Propagandamitteln ausstattet, um Menschen dahin zu bringen, sich als politische Einheit zu verstehen. Wo das organische Fundament fehlt, ist es durch kein künstliches zu ersetzen. 

Das unterscheidet die genannten Fälle vom deutschen und erklärt auch, warum man in Deutschland traditionell zwischen „Nation“ und „Volk“ unterschieden hat. Sicher waren die Deutschen bis zum 19. Jahrhundert keine Nation im Sinne Frankreichs, Englands, Schottlands, Schwedens oder Dänemarks. Aber ohne Zweifel waren sie ein Volk, wenn man darunter eine Gemeinschaft versteht, die, nicht notwendig staatlich organisiert, aber durch gemeinsame Sprache und gemeinsame Kultur verbunden ist.

Das Heilige Römische Reich wie der Deutsche Bund umfaßten den größten Teil des deutschen Volkes, und auf deren Boden entstand auch im Gefolge von Aufklärung und Romantik die deutsche Nationalbewegung. Ihr Bemühen, das Volk möglichst im Ganzen zusammenzuführen, scheiterte zwar mit der Revolution von 1848/49. Aber der Einheitswunsch erlosch nicht. Nur zeigte sich schon vor dem Sieg Preußens über Österreich 1866, daß eine wachsende Zahl von Patrioten willens war, die „kleindeutsche“ Antwort auf die „Deutsche Frage“ zu akzeptieren. Bismarck wußte um diese starken Kräfte im Bürgertum, unter den Gebildeten wie den einfachen Leuten, als er die Reichsgründung vorbereitete.

Freudenfeuer auf Gipfeln von Sudeten und Karpaten

In welchem Maß Bismarck auf Zustimmung „von unten“ rechnen durfte, zeigte sich bei Beginn des Konflikts mit Frankreich an der massiven Unterstützung von Liberalen und Demokraten in den Klein- und Mittelstaaten. Deren Fürsten neigten traditionell einer „Rheinbund“-Politik zu, also der Anlehnung an Frankreich. Dagegen zeigte das Volk eine betont nationale Haltung. Der Stuttgarter Historiker Ulrich Müller hat unlängst auf den Fall Württembergs hingewiesen, dessen Ständeversammlung als letzte die Kriegskredite bewilligte. Vor dem Landtagsgebäude in Stuttgart forderte die Menge stürmisch die Abwehr des „Erbfeindes“, bei der Sitzung der Abgeordneten erhob sich auf den Galerien immer wieder Beifall für Redner, die, wie der Führer der Linken Karl Mayer – ein Veteran von 1848 –, verlangten, daß der Bündnisvertrag mit Preußen eingehalten werde. Zuletzt stimmte die Kammer der Forderung bei nur einer Gegenstimme zu, und der König von Württemberg mußte unter Tränen dem französischen Botschafter die Entscheidung seines Parlaments mitteilen.

Daß Württemberg, Bayern, Baden und Sachsen an die Seite Preußens traten, obwohl alle diese Staaten noch wenige Jahre zuvor im Kampf gegen Preußen eine bittere und als ungerecht empfundene Niederlage erlitten hatten, erinnert auch daran, daß Österreich der Lockung widerstand, „Rache für Sadowa“ zu nehmen. Zwar lavierte die Regierung kurze Zeit. Aber in Wien und den großen Städten des Landes brach sich die gesamtdeutsche Begeisterung Bahn. Man sammelte Geld für Liebesgaben, sang unter schwarz-rot-goldenen Fahnen „Die Wacht am Rhein“, und mancher Junge, vor allem aus den Reihen der Korporierten, schlug sich bis zu den deutschen Linien in Frankreich durch, hoffend, es würden wie 1813 Freikorps gebildet. Dabei mochte auch die Hoffnung auf den „Anschluß“ mitspielen. 

Anders lag der Fall bei den Siebenbürger Sachsen, deren Verbindung zum deutschen Kulturraum zwar – trotz der geographischen Trennung – nie ganz abgerissen war, die aber nicht hoffen konnten, je Teil eines deutschen Nationalstaates zu werden. Das hat die Begeisterung nach den Siegen der preußischen und der verbündeten Truppen kaum gemindert. Auf den Gipfeln der Alpen wie der Sudeten oder der Karpaten flammten dann die Freudenfeuer hoch.

Nichts Vergleichbares gab es in der Schweiz, die neutral blieb. Allerdings sollte nicht vergessen werden, daß bis zum Vormärz in der Bildungsschicht eine gesamtdeutsche Idee gelebt hatte. Der Schriftsteller Gottfried Keller betrachtete sich nur halbspöttisch als „Peripheriegermanen“, der doch sehr lebendigen Anteil an dem nahm, was das „Binnenvolk“ trieb. Seine Verehrung Goethes wie Schillers hatte ihre Ursache im selbstverständlichen Stolz vieler Schweizer auf eine deutsche „Nationalliteratur“. Allerdings gingen nur wenige so weit wie Kellers Zeitgenosse Conrad Ferdinand Meyer, der unter dem Eindruck des deutschen Sieges von 1871 sein Gedicht „Huttens letzte Tage“ veröffentlichte, in dem es hieß: „Geduld! Es kommt der Tag, da wird gespannt / Ein einig Zelt ob allem deutschen Land!“ Auch Keller hat die Reichseinigung begrüßt, aber das Demokratiedefizit der neuen Verfassung beklagt, während der Altliberale Jacob Burckhardt finstere Prognosen stellte, im Hinblick auf das, was der neue Staat für das europäische System bedeuten werde.

Bismarck vermied zu engen Bezug auf die Nationalität

Die Situation der Schweiz unterschied sich sehr deutlich von der des benachbarten Elsaß, das mit der Wiener Schlußakte endgültig an Frankreich gefallen schien. Paris tat danach alles, die deutschen Einwohner zu französisieren. Der Erfolg dieser Art Umerziehung war aber nur in den Städten des „Zwischenlandes“ (Wilhelm Heinrich Riehl) größer. Bauern, Winzer und einfache Leute hielten nicht nur an der Überlieferung, sondern auch an ihrer Mundart fest. Das mag Napoleon III. bewogen haben, bei seinen offiziellen Besuchen im Elsaß stets eine Ansprache auf deutsch zu halten. Seine Untertanen nahmen das mit Wohlwollen auf, hüteten sich jedenfalls, zu opponieren. Erst nach dem Fall Straßburgs im Herbst 1870 veröffentlichte der Pfarrer Karl Hackenschmidt sein Gedicht „Mein Elsaß deutsch!“, das mit den Zeilen begann: „Mein Elsaß deutsch! Mein Elsaß frei! / Mir ist, als träumt ich noch. / Ist’s Wahrheit? Ist der Strick entzwei? / Zersprengt das fremde Joch? // Liegt wieder in der Mutter Arm / Der längst verlor’ne Sohn? / Schall wieder frei, so frisch und warm / Der Muttersprache Ton? // Nun, brich mir nicht von sel’ger Lust, / Mein Herz, mein deutsches Herz! / Nun steige aus befreiter Brust / Mein Danklied himmelwärts!“

Was diese Begeisterung erklärte, war vor allem die Dankbarkeit dafür, daß nun der Assimilationsdruck wegfiel, dem man als Deutsch-Elsässer ausgesetzt war. Ein glückliches Schicksal, verglichen mit dem unglücklichen der Deutschbalten. Sie waren seit den 1850er Jahren der Russifizierung ausgesetzt, die nicht nur ihre privilegierte Stellung im historischen „Livland“ bedrohte, sondern auch ihre Identität als deutscher „Stamm“. Wortmächtige Vertreter der Deutschbalten wie Carl Schirren und Woldemar von Bock hatten sogar ihre Heimat verlassen und waren nach Deutschland gegangen, in der Hoffnung, hier Hilfe zu finden. Vergeblich, wie sie feststellen mußten. Der von westlicher Seite in Rußland genährte Argwohn, Bismarck könne eine „pangermanische“ Politik betreiben, deren Ziel es sei, die alten Provinzen des Deutschen Ordens zurückzugewinnen, entbehrte jeder Grundlage. Mehr noch, Bismarck hat gegenüber deutschbaltischen Adligen, denen er persönlich verbunden war, zugegeben, daß er ihre Sache für verloren halte und keinesfalls einen Konflikt mit Rußland riskieren werde, indem er für sie eintrete.

Otto von Bismarck wußte zu genau, daß jede Bezugnahme auf die „Nationalität“ im Osten die Verhältnisse umstürzen werde. Das war aber nicht seine Absicht, so wie es nicht seine Absicht war, das europäische Staatensystem als solches zu beschädigen. Bismarcks Rede von der Reichsgründung als einer „konservativen Tat“ hatte ihr Recht eben darin, daß er die notwendigen Veränderungen vollzog, die unmöglichen vermied. 

Die symbolische Bedeutung des 18. Januar 1871 ging für die Deutschen aber gerade nicht in staatsmännischen Erwägungen auf. Das zeigte sich vielleicht am überraschendsten bei den etwa 1,7 Millionen deutschen Auswanderern in Nordamerika. Schon unmittelbar nach dem Beginn der Kämpfe 1870 gab es Freiwilligenmeldungen von Veteranen des Bürgerkrieges, die jetzt für das alte Vaterland gegen Frankreich fechten wollten. In allen Teilen der USA mit einer stärkeren deutschen Bevölkerung wurden Hilfsvereine und patriotische Komitees gegründet. Die militärischen Erfolge Preußens und seiner Alliierten führten zu Aufmärschen und Festveranstaltungen. Das galt vor allem nach der Kaiserproklamation in Versailles. 

18. Januar war für Deutsch-Amerikaner ein Feiertag

Während dieser Tag in Deutschland niemals zum Feiertag erklärt wurde, galt er den Deutsch-Amerikanern über Jahrzehnte hinweg als Datum, an dem man sich voller Stolz darauf besann, daß dem deutschen Namen wieder Geltung verschafft worden war. Dieser Enthusiasmus hat sogar jene „Achtundvierziger“ wie Carl Schurz oder Friedrich Hecker erfaßt, die – bei allen Vorbehalten gegenüber Bismarck und Preußen und der monarchischen Verfassung – doch würdigten, daß allem anderen die Schaffung der Einheit vorging.

Sie hatten begriffen, was notwendigerweise „von oben“, durch staatsmännisches Geschick, aber auch durch „Blut und Eisen“, zu geschehen hatte, und was notwendigerweise „von unten“ kommen mußte, als Folge der Bereitschaft, die politische Ordnung mit Leben zu füllen, getragen von denen, die das Volk bildeten, sogar dann, wenn sie außerhalb der Grenzen des neuen Reiches verblieben.