© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Der Chefhistoriker heißt Wladimir Putin
Geschichtspolitik: Die Stalinisierung des historischen Bewußtseins macht in Rußland große Fortschritte
Oliver Busch

Andrej Kolesnikov ist Politologe und Leiter des Programms „Rußländische Innenpolitik und politische Institutionen“ an der Moskauer Filiale der Carnegie-Stiftung. Darum kann die betont westliche Beurteilung  der „Geschichtspolitik des Putin-Regimes“, der Kolesnikov eine umfangreiche Studie widmet (Osteuropa, 6/2020), nicht verwundern. 

Trotzdem weiß er sich insoweit wissenschaftlicher Objektivität verpflichtet, wie er klarstellt, daß der Einsatz der „Waffe Erinnerung“ keine russische Besonderheit ist. Denn „jeder Staat“ bediene sich kollektiver Erinnerung als zentrales, Identität stiftendes, sozialen Zusammenhalt stärkendes Element und schaffe sich daher sein eigenes Helden- und Opferpantheon, historische Hierarchien und Erinnerungsorte. Jeder Staat richte seine Geschichte an der aktuellen politischen Konjunktur aus. Und in zahlreichen Ländern unternehmen die Herrschenden auch massive geschichtspolitische Anstrengungen, negative Vorstellungen von der Nation und ihrer Geschichte zu blockieren. In Polen etwa wurde 2018 ein Gesetz verabschiedet, das es unter Strafe stellt, dem polnischen Staat oder Volk eine Mitverantwortung für Verbrechen unter der NS-Okkupation (Jedwabne-Debatte) zuzuschreiben. 

Die offizielle deutsche Gedächtnis-Bewirtschaftung, die „negative Vorstellungen“ mit manischer Hingabe kultiviert, ist international eine Ausnahme, wie das Beispiel Litauens zeige. Dort löste Ruta Vanagaite einen Skandal aus, als sie 2016 behauptete, ihre Landsleute hätten viel stärker an Massenmorden der SS-Einsatzgruppen mitgewirkt als angenommen. Ähnlich emotionale Reaktionen sind aus den Debatten über die west- und nordeuropäische „Kollaboration“ bekannt. Hier geriet das Selbstbild „Auch wir sind nur Opfer“, das ein Zentrum des historischen Gedächtnisses vieler Völker mit „besonders schwieriger Geschichte“ bilde, heftig ins Wanken.

Hitler-Stalin-Pakt wird plötzlich anders bewertet

Doch mögen Bedeutung und Funktion der Geschichtspolitik sich im internationalen Vergleich auch ähneln, so glaubt Kolesnikov, daß Rußland in zweierlei Hinsicht von dieser Normalität abweiche. Zum einen weigere sich der Staat kategorisch wie kein anderer, „über schwierige Fragen der Geschichte“ auch nur ansatzweise zu diskutieren. Zum anderen werde die Erinnerungspolitik in ebenfalls singulärer Weise „zunehmend aggressiv und offensiv eingesetzt“. Zwischen Ende 2019 und dem Frühsommer 2020 habe dieser Geschichtsdiskurs in seiner Härte neue Höhepunkte erreicht, als Wladimir Putin, der sich selbst als „Chefhistoriker und führender Geschichtsinterpret des Landes“ inszeniere, und einige seiner treuesten Gefolgsleute wie Kulturminister Wladimir Medinskij, Deutungen kanonisierten, die auf eine „Restalinisierung der Darstellung der Geschichte Rußlands“ hinausliefen.

Die wichtigsten Felder, auf denen dieser „Erinnerungskrieg“ ausgefochten werde, seien der Streit über die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg, in dessen Mittelpunkt die Kontroverse über den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 stehe, sowie die Einordnung des stalinistischen Terrorregimes in den Kontext der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hatte Putin den Pakt noch 2009 moralisch verurteilt, bot ihm der 80. Jahrestag des Abkommens 2019 Anlaß, eine Kehrtwende zu vollziehen. Nun galt es als „diplomatischer Triumph der UdSSR“. Mit dieser neuen Lesart verband sich eine antipolnische Kampagne, die die Warschauer Obristen-Clique, die – hier Winston Churchills verächtliche Wendung wieder aufnehmend – schon nach dem Münchener Abkommen (1938) „wie eine Hyäne“ agiert habe, um einen Teil aus dem Kadaver der Tschechoslowakei herauszureißen, kaum verhohlen mit einer Mitschuld am Ausbruch des Weltkriegs belastete. 

Zugleich reagierte Putin damit auf eine geschichtsklitternde  Erklärung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019, die ebenfalls zum Pakt Stellung bezog. Demnach handelte es sich bei beiden Vertragspartnern um gleichermaßen „totalitäre Regime“, die beide „das Ziel der Welteroberung verfolgt“ hätten. Aus Putins Perspektive stellte die EU als Sprachrohr der USA Rußlands aktuelle Politik gegenüber der Ukraine in die Kontinuität des Imperialismus des Massenmörders Stalins.

Wertschätzung für Stalin steigt in der Bevölkerung

Und eben darum, so argumentiert Kolesnikov, arbeite der Präsident an der „offiziellen Reinwaschung“ des Diktators, wozu dessen positive Bewertung als Akteur im Vorfeld des Weltkriegsausbruchs und als Stratege des „Großen Vaterländischen Krieges“ Wesentliches beitrage. Erste propagandistische Erfolge würden denn auch meßbar. „Die Stalinisierung des historischen Bewußtseins“ schreite voran. In nur einem Jahr, von 2018 bis 2019, sei die „Wertschätzung“ für Stalin in einer Bevölkerungsumfrage von 29 auf 41 Prozent gestiegen. Auch Stalins Rolle für das Land beurteilen immer mehr russische Bürger positiv. 2019 äußerten sich 70 Prozent in diesem Sinne, während nur noch 19 Prozent ihn negativ wahrnehmen. 46 Prozent waren der Meinung, daß die „Leistungen und Errungenschaften“ des Stalinismus die erlittenen menschlichen Opfer rechtfertigten. 

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