© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Klassiker aus Reichszeiten
Mittelchen für fast alles: „Kaiser-Natron“ gab es schon in Wilhelms Haushalt
Bernd Rademacher

Au, mein Kopf! Hätte ich gestern bloß nicht durcheinander getrunken! Der dicke Kater brummt vernehmlich. Aber ich schwöre auf ein Antidot: ein Glas Mineralwasser, ein Spritzer Zitronensaft – und ein Teelöffel Kaiser-Natron.

Das weiße Pulver in dem grünen Papiertütchen mit dem Retro-Design kenne ich noch aus Kindheitserinnerungen in Omas Küche. Und Oma kannte die Eigenschaften des Wundermittels von ihrer Oma. Und schon damals hieß es „Kaiser-Natron“.

Bereits die alten Ägypter nutzten das zermahlene Mineral Nahcolith zur Mumifizierung ihrer Pharaonen. Chemisch betrachtet, handelt es sich um Natriumhydrogencarbonat. Außer zur Mumienpräparation findet das Sodapulver bis heute universelle Anwendung in Haushalt, Küche, Gesundheitspflege und Kosmetik.

Nahcolith tritt als natürliches Mineral in Ölschiefer auf. Große Vorkommen befinden sich im US-Bundesstaat Colorado. Doch 1860 erfand der Belgier Ernest Solvay mit 23 Jahren ein Verfahren, um preiswertes Kochsalz in Natron und Ammoniak zu spalten. Mit seiner Soda-Fabrik wurde er steinreich.

1881, zehn Jahre nach der Reichsgründung, begann August Holste, Sohn eines Bielefelder Kolonialwarenbesitzers, mit Produktion und Vertrieb von Soda unter dem patriotischen Namen „Kaiser-Natron“. 1897 erhielt das Unternehmen einen Warenschutz. Das war wichtig fürs Geschäft, denn zu jener Zeit kursierten alle möglichen obskuren „cosmethischen Geheimmittel“ für und gegen alles, die oft von Scharlatanen angeboten wurden. Deshalb erließ das Kaiserliche Gesundheitsamt bereits 1876 eine „Kaiserliche Verordnung über den Verkehr mit Arzneimitteln“ zum „Schutze des Publikums“ – der erste wirksame Verbraucherschutz.

Holste wurde zum Hoflieferanten ernannt und durfte mit dem Portrait S.M. Kaiser Wilhelm II. werben; neben dem Slogan „erprobt und gelobt“ sowie dem Hinweis: „Zum vielseitigen praktischen Gebrauch für das Militär, nach Vorschrift des General-Oberarztes Dr. Hoffmann, Berlin.“

Hoffentlich entdecken es nicht die Grünen

Während das Militär Soda als Puder gegen Schweißfüße durch langes Marschieren und als Anti-Läuse-Mittel schätzte, nutzten es die Hausfrauen zum Silberputzen, als Waschmittel für strahlend weiße Hemden und Allzweckreiniger. Der Herr des Hauses lobte besonders die ausgezeichnete Wirkung gegen Sodbrennen nach üppigen Mahlzeiten und gegen Alkoholkater.

Doch Kaiser-Natron kann noch viel mehr und wird auch noch heute in Online-Ratgebern empfohlen. Zum Beispiel als Alternative zu Backpulver, da Natron keine Säuerungsmittel wie Phosphate enthält. Oder als isotonisches Getränkepulver für Leistungssportler. Und auch als Arznei gegen Zahnfleisch-entzündungen. Da Natron bakterielle Biofilme auflöst, hilft es auch gegen üble Gerüche aus dem Abfluß, ist dabei aber wesentlich umweltschonender als aggressive Reiniger.

Es gibt noch zahlreiche „Life-Hacks“ mit Kaiser-Natron: Omelettes und Pfannkuchen werden noch luftiger und lockerer mit einer Prise Natron. Eine Messerspitze des Pulvers gibt Apfelmus eine leuchtend-frische Fruchtfarbe. Ein Teelöffel Natron pro Kilo Kartoffeln macht Kartoffelpüree noch zarter und cremiger. Eine Prise Natron schwächt die Säure in Sanddorn-, Rhabarber- oder Stachelbeer-Marmelade ab, ohne Zucker zugeben zu müssen. Und mit Natron im Kochwasser lassen sich Eier besser pellen. Im Laugenbrezelteig sorgt Natron für die typisch rotbraune Farbe und den unverwechselbaren Geschmack.

Ja, Kaiser-Natron soll sogar Orangenhaut straffen. Eine Paste aus Kaffeesatz, Natron und Olivenöl wirkt regelmäßig einmassiert angeblich gegen Cellulite. Selbst wenn es nicht hilft, ist es allemal günstiger, als die unzähligen teuren Kosmetikcremes.

Schließlich läßt Natron in Wasser gelöst und getrunken den ph-Wert im Magen steigen. Um den Anstieg auszugleichen, zieht der Körper saure Stoffwechselprodukte heran, die in anderen Regionen abgelagert sind und neutralisiert sie so. Bei Sportlern beugt das einer Muskel-Übersäuerung vor. Doch Vorsicht: Wird die Magensäure zu oft durch das basische Natron neutralisiert, kann der Körper mit einer gefährlichen Hyperproduktion von Magensäure reagieren. Das Natrium im Natron kann zudem den Blutdruck in die Höhe schnellen lassen. 

Auch nach dem Ende des Kaiserreichs expandierte die Produktion von Kaiser-Natron bei Holste im ostwestfälischen Bielefeld. Die schönen Jugendstil-Klinkerfassaden wurden im Zweiten Weltkrieg zwar stark beschädigt, aber später renoviert. Heute lautet das Unternehmensmotto „Tradition + Fortschritt“, was sich beispielsweise in der ökologischen Rohstoffauswahl spiegelt. 

Der seit über hundert Jahren verkaufte Klassiker ist ein ebenso unauffälliges wie omnipräsentes Relikt aus dem Kaiserreich. Hoffentlich werden die Grünen nicht darauf aufmerksam, sonst muß das Produkt womöglich umbenannt werden.