© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Alexej Nawalny. Mutig, rechts, oppositionell – der bekannte Kremlkritiker geht aufs Ganze.
Held oder Märtyrer
Jürgen Liminski

In seinem letzten Interview wurde Konrad Adenauer nach der wichtigsten Eigenschaft für Politiker gefragt, die Antwort: „Der Mut.“ Den kann man Alexej Nawalny nicht absprechen. Nach einem Giftmordanschlag nach Rußland zurückzukehren, dessen Geheimdienst das Attentat ausführte, ist nach den Maßstäben der lauen Lebenslagen in Europa mehr als mutig, vielleicht gar tollkühn. Aber die Rückkehr macht ihn endgültig zum Kontrahenten des Systems Putin. 

Dieses System wird jetzt versuchen, ihn zu brechen. Die üblichen Mittel sind Diffamierung, Drohungen, Isolierung, Rufmord. Halbwahrheiten über ungeklärte Korruptionsfälle gehören auch dazu. All das weiß er, und seine Ausdauer und Zähigkeit sind sicher so groß wie sein Mut. Und Rußland verzeiht seinen Helden. Wenn das Kalkül des 44jährigen Juristen, Unternehmers und Politikers ist, daß es in Pseudo-Demokratien auf den Einzelnen, auf den Helden ankommt, der das Volk mitreißt, dann ist seine Rückkehr nur logisch. Die personalisierte Machtstruktur in Rußland hat Geschichte. Das war im Zarenreich so, in der Nomenklatura der Sowjets und ist es auch in der Föderation seit 1991 – eine Demokratie mit Wahlen, aber mit gelenkter Justiz und ohne Meinungsfreiheit. Da ist Präsenz schon Programm.  

Alles kommt für Nawalny und seine Anhänger jetzt darauf an, ihn bekannter zu machen, seine Anwesenheit ins Bewußtsein der Bevölkerung zu heben. Dabei hilft ihm seine politische Position. Nawalny kommt von rechtsaußen und wäre in Deutschland eher in der AfD als in der CDU. Linksliberal ist er jedenfalls nicht – das macht ihn für die Etablierten im Westen als Oppositionellen verdächtig. Er ist kein Wirtschaftsliberaler und auch kein linkssozialer Reformer. Meinungsfreiheit aber ist für ihn ein hohes Gut. Dafür kämpft er. Modernisierung mittels Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz sind sein Programm. Damit kann man auch die riesigen Räume Rußlands überwinden. Groß werden sollen aber nicht die Unternehmen, sondern Volk und Nation. 

Diese eher diffuse Programmatik spricht vor allem junge Leute an. Zu Hunderten kamen sie am Montag zum Flughafen, um Nawalny in Rußland zu begrüßen, viele wurden verhaftet. Sie werden weiter zu ihm halten. Das Volk sind sie aber nicht. Nawalnys Anhängerschaft ist überschaubar, bei Wahlen würde er vermutlich kaum mehr als zehn Prozent holen, wenn er überhaupt mit einer Partei anträte. Denn eine Partei würde ihn und sein Netzwerk kontrollier- und angreifbar machen. Früher hätte man gesagt, dieser redegewandte, gern ironische Jurist ist der klassische Volkstribun. Doch zum Populisten reicht es nicht, das gibt die unfreie Informationsstruktur im Land nicht her. Aber daß das System Putin ihn nur für dreißig Tage hinter Gitter steckt, zeigt Unsicherheit. Nawalny wird entweder doch noch zum Volkshelden – oder zum Märtyrer.