© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Die Nerven liegen blank
Italien: Warum Ex-Premier Renzi das Land ins Chaos stürzt, sorgt für reichlich Diskussionsstoff
Marco F. Gallina

Genau 321 Stimmen. So viele Abgeordnete waren es am Ende, die Premierminister Giuseppe Conte in der Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments das Vertrauen aussprachen – fünf mehr, als er für die absolute Mehrheit bräuchte, aber 22 weniger, als er bei der Vereidigung seines zweiten Kabinetts im September 2019 erhielt. Die Abstimmung am Montag war nach dem Bruch der Regierungskoalition vergangene Woche unvermeidlich geworden. Der parteilose Conte warb um das Verantwortungsgefühl anderer Parlamentarier, angesichts der Krise die Regierung zu stützen. 

Rechte Opposition führt in Wahlumfragen

Bereits vergangene Woche hatte es Spekulationen gegeben, daß die Basislinken vom Movimento 5 Stelle (M5S) und dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) Verstärkung von Silvio Berlusconis bürgerlicher Forza Italia (FI) bekommen könnten. Eine „Koalition Ursula“ – benannt nach der EU-Kommissionspräsidentin, die im EU-Parlament von diesen Parteien gewählt wurde – wurde von der FI jedoch schon am Freitag ausgeschlossen. Am Montag votierte allein Renata Polverini aus den Reihen der Berlusconianer für Conte – und wurde für diesen „Verrat“ folgerichtig aus der Partei ausgeschlossen.

Daß der Montag keinen Sturz des Kabinetts bringen würde, war zwar schon vorher absehbar. Dennoch liegen die Nerven bei Regierung wie Opposition seit dem 13. Januar blank. An dem Tag hatte Ex-Premier Matteo Renzi seine beiden Ministerinnen aus der Regierung abgezogen. Renzi hatte seine Splitterfraktion bereits bei der ersten Regierungskrise im September 2019 von der Mutterpartei PD abgespalten, war aber in der Koalition geblieben. Die von ihm geführte Italia Viva (IV) hatte zwar nie Potential, die Regierung Conte zu erpressen – doch mit ihrem Wegfall schrumpft die Stimmenmehrheit im Parlament hauchdünn zusammen.

Warum Renzi das Land ins Chaos stürzt, hat für reichlich Diskussionsstoff gesorgt. Offensichtlich hofft der einstige Chef der größten linken Sammlungsbewegung Italiens immer noch auf ein Comeback, obwohl seine neue Zwergpartei keine fünf Prozent in den Umfragen erreicht. Spekulationen wurden laut, daß Renzi den Premier austauschen möchte. 

Renzi selbst verteidigt sein Vorgehen damit, daß er die Verteilung der 300 Milliarden Euro für den EU-Aufbauplan nicht unterstütze. „Wenn wir jetzt nicht gut investieren, dann werden unsere Kinder und Enkel für Jahre zahlen“, mahnt er in einer Talkshow. 

Eine Rückkehr in die Koalition ist jedenfalls ausgeschlossen. Contes Verhältnis zu Renzi soll laut Medienberichten noch zerrütteter sein als zu Lega-Chef Matteo Salvini, als dieser die Koalition 2019 auflöste. Der forderte bereits am Tag nach der Koalitionsaufkündigung: „Neuwahlen, sofort“. Auch Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia (FdI) stellt diese Forderung und „schämte sich“ für das „Geschacher“ Contes um eine Stimmenmehrheit im Abgeordnetenhaus. „Das einzige Virus, das Sie an Wahlen hindert, ist die Sesselkleberei“, warf sie dem Premier am Montag in der Kammer vor. Die Lega ist in Umfragen – trotz Verlusten – immer noch die stärkste Partei, deren Schwäche von Melonis FdI kompensiert wird. Würde in Italien gewählt, könnte ein Premierminister Salvini eine komfortable Mehrheit des rechten Bündnisses aus Lega, FdI und FI anführen – mit Meloni als Vize-Premier.

Das Horrorszenario des linken Lagers dürfte auch Renzi daran hindern, im Parlament gegen Conte zu stimmen. In der Vertrauensabstimmung enthielten sich die Abgeordneten der Italia Viva. Damit könnte Conte im Zweifelsfall wenigstens mit einer relativen Mehrheit rechnen. Viel wichtiger ist jedoch der Senat. In Italien gilt ein „perfektes Zweikammersystem“, das heißt, die Regierung muß in beiden Kammern eine Mehrheit finden. Im Senat mußte der Premier noch am Dienstag morgen nach Unterstützern suchen. Selbst wenn Conte diesen Kampf übersteht (das Senatsvotum lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor): einer Regierung von wenigen Stimmen Mehrheit in einem krisengeschüttelten Land mit einem Koalitionspartner wie den anarchischen Fünf Sternen ist keine lange Lebenszeit beschieden.

Erste Stimmen rufen bereits nach der EU. Das Damoklesschwert einer technischen Übergangsregierung schwebt über dem Parlament. Sie könnte im Zweifelsfall die umstrittenen EU-Vorlagen – den ESM hat Italien bis heute nicht in Kraft gesetzt – beschließen, Wahlen vorbereiten und geschäftsführend im Amt bleiben. Selbst der PD, Contes wichtigste Stütze im Parlament, schließt Wahlen im Juni nicht aus.