© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Radikale Erkenntnisse
Wirtschaftsliteratur: Thorsten Polleit seziert die Absurditäten der Kapitalismuskritik / 20 Kapitel auf der Suche nach einer besseren Gesellschaftsordnung
Erich Weede

Ist unsere Gesellschaft kapitalistisch? Nein, nicht wirklich, sagt der Wirtschaftsprofessor Thorsten Polleit. Aber bei konsequenterer Beachtung der Eigentumsrechte der Menschen würde unsere Gesellschaft freier, gerechter und tatsächlich „kapitalistischer“, als sie es ist. Allerdings trete Kritik an offensichtlichen Mißständen oft als Antikapitalismus auf, obwohl die Problemursachen meist bei Staatsinterventionen und Staatsversagen liegen.

Als Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und Präsident des Ludwig-von-Mises-Instituts Deutschland entwickelt Polleit diese Ideen in 20 Kapiteln. Daß man diese unabhängig voneinander lesen und verstehen kann, ist einerseits vorteilhaft, impliziert andererseits Wiederholungen. Persönlich habe ich jedenfalls die Wiederholungen von Polleits erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen am Anfang und am Ende des Buches als Gewinn verbucht, gerade weil ich an dieser Stelle anderer Auffassung bin als er.

Polleit beansprucht, daß sein vor allem von dem Liberalismustheoretiker Ludwig von Mises übernommenes Menschenbild, wonach Menschen lernfähig und zielorientiert, mit der Knappheit der Mittel einschließlich der Zeit konfrontiert sind, ein geeigneter Ausgangspunkt für die Entwicklung ökonomischer Theorien ist. Schon deshalb, weil ich die meisten seiner Schlußfolgerungen teile, kann ich das nicht in Abrede stellen. Aber ich behaupte, daß viele von Mises oder Polleit vertretene Auffassungen gerade nach empirischen Kriterien oft sogar besser sind als von den Urhebern beansprucht wird.

Dazu einige Beispiele: Schon kurz nach der bolschewistischen Machtergreifung in Rußland erkannte Mises, daß ohne Privateigentum an Produktionskapital keine Knappheitspreise und damit keine rationale Ressourcenallokation möglich sei („Die Gemeinwirtschaft – Untersuchungen über den Sozialismus“, 1922). Welcher Empiriker kann das in Anbetracht des zwischen erbärmlich und günstigstenfalls bescheiden variierenden Lebensstandards in kommunistischen Ländern bestreiten?

Eigentum und Freiheit sind unverzichtbar

Polleit behauptet an mehreren Stellen im vorliegenden Buch, daß der demokratische Sozialstaat eine stete Neigung zur Expansion habe. Wer kann das in Anbetracht sich verdoppelnder oder gar verdreifachender Staatsquoten im 20. Jahrhundert bestreiten? Polleit sieht in der Standortkonkurrenz zwischen politischen Systemen eine Möglichkeit, staatlichen Übergriffen in die Eigentumsrechte von Menschen und Unternehmen etwas entgegenzusetzen.

Das paßt zu der Tatsache, daß Eigentums- und Freiheitsrechte im politisch fragmentierten Europa so viel sicherer waren als in den asiatischen Großreichen. Polleit beschäftigt sich an vielen Stellen mit den inflationären Neigungen von Herrschern und Staaten, die weder von Demokratien noch von Zentralbanken wirksam gebremst werden. Wieder findet man massive empirische Bestätigung selbst bei vergleichsweise stabilen Währungen wie der D-Mark.

Natürlich vertritt Polleit auch Auffassungen, bei denen die Empirie kein schnelles und sicheres Urteil erlaubt. Wichtig ist ihm die Berücksichtigung der Zeitpräferenz der Individuen und daraus folgend die Unmöglichkeit eines sich auf freien Märkten bildenden negativen Zinses. Weil unsere Finanzmärkte durch Staaten und Zentralbanken stark reglementiert sind, kann die Erfahrung auch nicht gegen diese These sprechen. Was Polleits Erwartung negativer wirtschaftlicher Folgen künstlich erzeugter Negativzinsen angeht, wird der Empiriker hingegen zum Abwarten neigen.

Dasselbe gilt für Polleits Einstellung zum ungedeckten „Fiat-Geld“. Zwar ist die Inflationsneigung empirisch nicht bestreitbar, aber ob und wann es in eine ganz große Krise führt, das bleibt abzuwarten. Wie Polleit wäre auch mir bei mehr Währungskonkurrenz, nicht zuletzt auch von privaten Emittenten, deutlich wohler. Was Polleits politische Empfehlungen angeht, habe ich vor allem am Ende des Buches Zweifel.

Polleit sieht nicht nur in kleineren Staaten das kleinere Übel als in den großen Staaten. Er will darüber hinaus auch den Staat als Garanten innerer und äußerer Sicherheit abschaffen. Da habe ich meine Zweifel, weil zu befürchten ist, daß die Bereitschaft dazu in den relativ freien Gesellschaften des Westens größer als in den autoritären oder totalitären Gesellschaften ist. Ich gehe zwar mit ihm von der Ineffizienz solcher Gesellschaften bei produktiven Tätigkeiten aus, aber wage nicht, ihnen militärische Ineffizienz zu unterstellen. Das Buch ist radikal, vernünftig und lesenswert auch für diejenigen, die meinen, daß jede menschliche Erkenntnis immer nur vorläufig ist und vielleicht der Korrektur durch Erfahrung bedarf.




Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. 1998 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.

Thorsten Polleit: Der Antikapitalist. Ein Weltverbesserer, der keiner ist. Finanzbuch Verlag, München 2020, gebunden, 319 Seiten, 19,99 Euro