© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Shylock, Harpagon und die Macht des Mammons
Man nennt sie Philanthropen
(dg)

Wie keine anderen Theaterfiguren verkörpern Shakespeares Shylock im „Kaufmann von Venedig“ und Molières Harpagon in „Der Geizige“ eine „vom Geld beherrschte und von der Liebe verlassene Welt“. Die sich für den Autor und Theaterregisseur Benjamin Korn seit vierhundert Jahren, seit der frühkapitalistischen Entstehungszeit beider Dramen, nicht oder allenfalls zum noch Schlechteren verändert hat. Denn in Wall-Street-Serien wie „Succession“ oder „Billions“ kehren Shylock und Harpagon mitsamt ihrem abstoßenden Umfeld von „Halunken, Blutsaugern, Erbschleichern und Spekulanten“ in Gestalt milliardenschwerer Finanzhaie und Hedgefonds-Manager zurück. Shakespeare und Molière stünden zwar noch mit einem Bein im Mittelalter und mit einem erst in der Moderne. Trotzdem hätten sie das „kommende Beben unter ihren Füßen“ gespürt und eine ausschließlich vom Geld beherrschte Welt, die sich für sie am Horizont schon abzeichnete, auf die Bühne gebracht. Dabei beschränken sie sich nicht darauf, die korrumpierende Macht des Mammons auf Großverdiener-Clans darzustellen. Die „verheerende seelische Wirkung der Geldbesessenheit“ durchdringt mit totalitärer Wucht vielmehr Gesellschaft, Mentalitäten und Kultur auf allen sozialen Ebenen, wie beide Dramatiker anhand einiger zu jeder Schandtat bereiten Nebenfiguren vorführen. Heute würde Harpagon sein Vermögen nicht mehr im Garten, sondern in einem Steuerparadies verstecken, Shylock wäre als Bankier, dessen Gegenspieler, der Großhändler Antonio, als Spekulant in Edelmetallen und Seltenen Erden tätig. Und alle drei wären als „Philanthropen“ hochangesehen (Lettre international, 131/2020). 


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