© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Rächerin und Partisanin
Königin des Barock: Zum neuen Album der römischen Ausnahmesängerin Cecilia Bartoli
Jens Knorr

Ist ihre Zeit denn schon reif für Resümees? Oder sind es rein marktwirtschaftliche Überlegungen, daß für diesmal eine Zusammenstellung älterer Titel die sonst regelmäßig erscheinenden neuen Projekte der ebenso entdeckungs- wie risikofreudigen römischen Sopranistin Cecilia Bartoli vertreten muß? Weltersteinspielungen je einer Arie von Agostino Steffani und Leonardo Vinci, quasi Nachträge zu den Konzeptalben „Mission“ und „Sacrificium“, vermögen den Käufer nicht darüber hinwegzutrösten, daß er lediglich ein „Best-of“ der „Queen of Baroque“ in Händen hält. Zwar will ihm ein freundlicher Aufsatz von Markus Wyler im opulenten Begleitbüchlein das Album als ein Pasticcio unterjubeln, aber die Pastete – oder genauer: Flickoper – erfüllt selbst geringe Ansprüche an inhaltlichen oder musikalischen Zusammenhang keineswegs. Den stiftet allein die stimmliche Biographie der Sängerin, die ihrem Singen über die Zeiten hinweg gut nachgehört werden kann.

Anerkannte Autorität im barocken Repertoire

Das Album zeichnet in groben Zickzackzügen den Weg der Ausnahmesängerin über 25 Jahre nach, von den Anfängen, da man noch leicht abwertend von einer Sonderbegabung sprach, bis zur Positionierung als einer anerkannten Autorität im barocken und vorklassischen Gesangsrepertoire, das nicht zuletzt dank Bartoli als zeitgenössisches etabliert werden konnte.

Die früheste Aufnahme von 1991 bietet den Eingangssatz aus dem Stabat Mater von Pergolesi, in dem Bartoli mit der Sopranistin June Anderson duettiert, die späteste von 2017 eine Aria di bravura aus einer Serenata von Albinoni, in der sie sich mit den obligaten Cello der Sol Gabetta und Violine des Andrés Gabetta süß duelliert.

Sie war bereits in Mezzo-Rollen Mozarts und Rossinis ein internationaler Star, als sie mit ihrem ersten Vivaldi-Album von 1999 gewohnte Gleise verließ und fest und unbeirrt die Regeln der eignen Spur aufsuchte. Der Venezianer Antonio Vivaldi war nicht ganz unbekannt, wenn auch nur mit einigen wenigen Werken, insbesondere den unverwüstlichen „Le qattro Stagioni“, im Konzertleben vertreten, galt jedoch ansonsten außerhalb des Kreises spezialisierter Musikwissenschaftler als toter Hund. Bartoli bereitete im Verein mit dem Ensemble Il Giardino Armonico und ihrem Leiter Giovanni Antonini nicht einfach nur einige repräsentative Nummern aus Vivaldis Opernpartituren, die Jahrhunderte in der Turiner Biblioteca Nazionale verstaubt gewesen waren, für schnellen Konsum auf, sondern interpretierte sie als Entäußerungen von Menschen aus Fleisch und Blut so dringlich, daß dem Hörer, so er Ohren hatte zu hören, kein Ausweg blieb, als ihre Affekte zu teilen. Daran erinnert eine Live-Aufnahme der Arie „Agitata da due venti“ aus Vivaldis „Griselda“.

Dem hier entwickelten Konzept und sich selbst ist sie treu geblieben. Zu jeder Entdeckungsreise entwickelten Bartoli und ihr Stab internationale Kampagnen, indem sie Audio-, Film- und Buchveröffentlichungen mit Konzerttourneen, Opernaufführungen und gezielten Veranstaltungen koordinierten, woran Markus Wyler erinnert. Letzthin positionierte sich Bartoli selbst als eine Marke, als ein „brand“. Daran erinnert Wyler nicht.

Arien aus dem Jahrhundert der Kastraten 

Von dem Bildungsprogramm, das Bartoli mit jedem ihrer neuen Projekte zugleich verfolgt hat und in Zeiten von MP3 und Streaming die Zusammenstellung der Titel eben gerade nicht dem Hörer überlassen wollte, davon vermittelt das Album nur eine schwache Ahnung. Eine starke Vorstellung jedoch vermittelt es von der zunehmenden Radikalität, mit der Bartoli, im Vollbesitz ihrer Mittel, diese in den Dienst ihres Ausdruckswollens nimmt. Fünf Arien aus ihrem Album „Sacrificium“, von 2009 stehen beispielhaft dafür ein, eine davon die für den Kastraten Caffarelli geschriebene „Ombra mai fu“ aus „Serse“, das sogenannte Largo von Händel. 

Mit „Sacrificium“ forschte Bartoli nicht schlechthin nur das Jahrhundert der Kastraten aus. Sie brachte die Affekte der männlichen und weiblichen Helden der Opere Serie als Affekte grausam verstümmelten Männer zur Darstellung, entriß den Kastraten ihre Partien und holte sie denen zurück, deren Ausschluß aus Versammlung und von Gesang das Verstümmelungsgewerbe erst in Gang gebracht hatte: den Frauen. Ein physischer Kraftakt und eine Aufnahme für die Ewigkeit!

Drei Arien und ein Auszug aus dem „Stabat Mater“ erinnern an die Wiederentdeckung und Popularisierung des Komponisten, Geheimdiplomaten und Geistlichen Agostino Steffani. Für das Projekt „Mission“ von 2012 hatte die Schriftstellerin Donna Leon sogar einen Kurzkrimi beigesteuert. Eine Arie aus Händels Oratorium „La Resurrezione“ erinnert an Bartolis Auseinandersetzung mit dem „Melodramma sacro“, jener musikalischen Gattung, mit der Komponisten und ihre geistlichen Auftraggeber das päpstliche Opernverbot eingangs des 18. Jahrhunderts einfallsreich umgingen. Und zwei Arien der Almirena aus Händels „Rinaldo“, Auskopplungen aus der Gesamtaufnahme unter Hogwood von 1999 erinnern an die Bühnenarbeiterin, die sich selbstverständlich gescheiten Dirigenten unter- und hochkarätigen Ensembles einzuordnen weiß.

Doch läuft eine bloße Nummernfolge von Highlights den Intentionen Bartolis nicht zuwider? Muß nicht dem Hörer diese Musik ohne Verständnis ihrer gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen und aktuellen Implikationen als leere Zurschaustellung virtuoser Kehlkopfartistik erscheinen?

Ebensowenig wie ihre Gesangskollegen Philippe Jaroussky, June Anderson, Franco Fagioli oder Sol Gabetta, die hier Gastauftritte haben, oder ihre Kapellmeister bloße Spezialisten sind, ist Bartoli eine „Queen of Baroque“. Selbst wenn es sich ausweislich der Rollenverzeichnisse einmal um Königinnen handelt, die da intrigieren und kooperieren, lärmen, toben, wüten und lamentieren, becircen und abweisen, so sind doch keinmal nur Königinnen gemeint. Gemeint sind Frauen (und Männer), hineingeworfen in eine befremdlich nahe Welt betonierter Hierarchien, wahnsinniger Normalität und künstlicher Natürlichkeit, neunmalkluger Allegorien und unverstandener Menetekel. Diesen Figuren geben Bartoli und die ihren in jeder Arie eine, ihre, unsre Geschichte. 

In jedem Affekt schwingt auch der gegenteilige mit

Bartoli sucht in jeder einzelnen Arie mit vokalen Mitteln eine ganze Bühnenfigur in all ihrem Widerspruch zu entwerfen, je später die Aufnahme, desto markanter. Dabei scheint ihr Geheimnis, in jedem Affekt auch den gegenteiligen anklingen, in jedem angeschlagenen den verschwiegenen Ton mitschwingen zu lassen. Sie dreht ihre kleine Stimme auf und überdreht sie, läßt sie aushauchen und attackieren, kolorieren und illustrieren und setzt sie dabei mit einer Vehemenz und Lust aufs Spiel, daß der Hörer am Ende selbst nicht mehr weiß, welchem Geschlecht er an- und zugehört. Ein Blick unter der Gürtellinie reicht da nicht hin.

Wenn die Worthülse aus der psychosozialen Blase, „Empowerment“ (Selbstbefähigung, Autonomie), auch nur irgend mit Inhalt zu befüllen wäre, dann für Bartoli und ihre Rollen. In jeder davon steckt eine Rächerin und Partisanin. Mit denen macht Bartoli ernst und hat noch hörbar Spaß dabei. Mit den Alben der Bartoli zieht man sie sich ins Haus.

Cecilia Bartoli Queen of Baroque Decca 2020  www.ceciliabartoli.com wwww.deccaclassics.com





Heilige Cäcilia von Rom

In der italienischen Hauptstadt 1966 zur Welt gekommen, nannten Cecilia Bartolis Eltern, beide Opernsänger, ihre Tochter nach der als Heilige und Märtyrerin verehrten Cäcilia von Rom. Sie gilt als Schutzpatronin der Kirchenmusik. Der Legende nach stammte sie aus einer Patrizierfamilie, um 200 n. Ch., und widmete ihr Leben Jesus. Weil sie den heidnischen Glauben verspottete, verurteilte sie der römische Präfekt zum Tode. Einen ersten Versuch, sie mit heißen Wasserdämpfen zu ersticken, überstand Cäcilia. Und auch dem Scharfrichter gelang es mit drei Schwerthieben nicht, Cäcilia sofort zu töten; sie lebte noch drei Tage. Während ihres gesamten Martyriums soll sie mit engelsgleicher Stimme gesungen haben. Ihr zu Ehren wurde die Santa Cecilia im römischen Stadtteil Trastevere geweiht, in der sich unterhalb des Altars die von dem Bildhauer Stefano Maderno geschaffene Marmorskulptur der Heiligen Cäcilia befindet. Und die Nationale Musikakademie in Rom – 1585 von Papst Sixtus V. als Ordensinstitut gegründet – trägt ihren Namen. Dort studierte auch Cecilia Bartoli. Mit 19 Jahren debütierte sie als Rosina in Rossinis „Barbier von Sevilla“. Ein Auftritt an der Pariser Oper zur Hommage an Maria Callas machte sie international bekannt. (tha)