© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/21 / 22. Januar 2021

Das große Corona-Versagen hält an
Multidimensionale Verantwortungslosigkeit / Ohne Tests und Impfungen keine Bewältigung der Pandemie?
Jörg Schierholz

Nach einem Jahr Corona und bislang 50.000 Covid-19-Toten in Deutschland kommt einiges zusammen: das fahrlässige Verschlafen des Pandemiebeginns, das Nichteinhalten der Pandemievorgaben, der permanente Notstand in der Pflege, zu wenig belegbare Betten auf den Intensivstationen wegen chronischen Personalmangels, die gleichzeitige Reduktion der Finanzierung von Intensivbettkapazitäten sowie technisch, personell und organisatorisch überforderte Gesundheitsämter.

Es gibt das Bestell-Chaos bei den PCR- und Schnelltests sowie dem Verteilen der FFP2-Schutzmasken. Die Corona-App ist mangelhaft. Der Impfstart mißlang – wichtiger war, einen „nationalen Alleingang“ zu vermeiden. Bürokratiestau verzögerte die Corona-Hilfen. Es gibt widersprüchliche und sich permanent ändernde Regeln bei der weiteren Verschärfung des Lockdowns.

Nun kommt noch eine Ohrfeige von ehemaligen medizinischen Beratern der Bundesregierung. Wer allerdings die Publikationen zur Covid-19-Pandemie verfolgt, war davon nicht überrascht. Die Professoren Matthias Schrappe (Uni Köln) und Gerd Glaeske (Uni Bremen), beide Ex-Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, haben mit sechs weiteren Fachkollegen in ihrem neuen Thesenpapier die Erfolglosigkeit der jüngsten Lockdown-Politik mit Zahlen und Analysen untermauern können.

Konzentration auf Hochrisikogruppen

Sie mahnten an, eine langfristige differenzierte Strategie sei immer noch nicht erkennbar, die verschärften Maßnahmen seien mit nicht verläßlichen Daten begründet. Die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen seien nicht berücksichtigt worden. Das Ziel einer Inzidenz von unter 50 auf 100.000 Einwohner liege in unerreichbarer Ferne. Es wäre kein gutes Zeichen, wenn die Spitzen der deutschen Ärzteschaft (Klaus Reinhardt/Präsident der Bundesärztekammer; Andreas Gassen/Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung) die ausgegebenen Zielvorstellungen in Frage stellen und dringend eine Kurskorrektur einfordern, aber offenbar nicht gehört würden. Die Fakten: Die Sterblichkeit der über 70jährigen lag Ende 2020 bei über 88 Prozent der Covid-19-bedingten Gesamtsterblichkeit – es ist somit eine Erkrankung vor allem älterer Menschen. Mit effektiven Präventionsprogrammen hätte man sich auf Herbst und Winter vorbereiten und die Intensivkapazitäten sichern können – außer einer Aneinanderreihung von Lockdowns sei aber wenig geschehen.

Die paradoxe Situation bestehe aus einerseits steil ansteigenden positiven Testraten für die Bevölkerungsgruppen höheren Alters, andererseits sind dies die Bevölkerungsgruppen, die durch die meisten Maßnahmen eines Lockdown am wenigsten geschützt werden, denn sie sind oft immobil oder in Institutionen untergebracht, in denen ihre Mobilität durch Schließungen und Ausgangsbestimmungen sowieso schon stark eingeschränkt ist. Die Zuspitzung der für Ältere bedrohlichen Situation wird durch die unglücklich kommunizierten und widersprüchlichen Anreize und Diskussionen der Impfkampagne verstärkt. Es gibt eine unklare Kommunikation der Komplikationen und Probleme in der Organisation. Es gibt keine klare Regelung bezüglich der Aufhebung von Kontaktbeschränkungen für Geimpfte.

Wenn die Hochrisikogruppen einmal durchgeimpft würden, käme es mittelfristig bei ihnen zu einer Reduzierung der Mortalität und Morbidität, aber nicht zu einer effektiven Senkung der allgemeinen Inzidenz auf die gewünschte Zielvorgabe von 50 zu 100.000 für eine Lockerung der Einschränkungen. In den europäischen Ländern ist es zu unterschiedlich hart ausgeprägten Lockdowns gekommen, aber ein großer Unterschied bezüglich der Eindämmung der Pandemie ließ sich durch Meta-Analysen nicht nachweisen. Gezielte Maßnahmen, weniger ein allgemeines „Stay at home“, wären effektiv.

Systematische Zweifel, die Skepsis als Methode

Sorge bereitet den Autoren die Diskussion mit dem Hang zur Abwertung abweichender Meinungen. Kritischen Stimmen Unvernunft und den Hang zur Verschwörungstheorie zuzuschreiben, würde das, was Wissenschaft im Kern ausmacht, zunichte machen: den systematischen Zweifel, die Skepsis als Methode sowie die Pluralität disziplinärer Perspektiven. Oder wie der Kabarettist Dieter Nuhr formulierte: Wissenschaft sei „keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet“.

Was bleibt als Perspektive? Es sind die am Markt befindlichen zwei innovativen Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna. Das AstraZeneca-Vakzin steht vor der EU-Zulassung. Die Pharmaunternehmen Johnson&Johnson und CureVac könnten folgen. Die zugelassenen Impfstoffe erscheinen nach vorläufigen Daten effektiv und vergleichsweise sicher. Schwere Nebenwirkungen und solche, die als lebensbedrohlich eingestuft wurden, treten bislang selten auf.

Die britische Arzneimittelbehörde MHRA rät allerdings dazu, niemanden zu impfen, der einmal mit einer Allergie auf Impfstoffe, Arzneimittel oder Lebensmittel reagiert hat. Weiterhin liegen derzeit keine ausreichenden Daten über selten auftretende Nebenwirkungen (Autoimmunerkrankungen, neurologische Ausfälle) vor. Es wird dieses Jahr vermutlich weniger einen Mangel an effektiven Impfstoffen geben, eher die hausgemachten Probleme einer zeitnahen, geordneten und effizienten Verteilung.

Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat kürzlich einen Corona-Schnelltest für den Heimgebrauch zugelassen. Mit dem massenhaften Einsatz von Schnelltests brauchte es gemäß US-Studien von Harvard und Yale womöglich keine Lockdowns. Rasches und regelmäßiges Testen könnte die Infektionszahlen drastisch senken. Das Bundesgesundheitsministerium besteht aber darauf, daß nur „geschulte Personen“ die Tests durchführen dürfen; zudem ist man bei der Bestellung sehr zurückhaltend. Vielleicht kommt es ja dennoch zu der im Sommer 2020 vom Gesundheitsminister angekündigten Testoffensive.

Kommunen wie Tübingen werden gelobt. Die württembergische Unistadt stellt seit April bereits ein Seniorentaxi, das zum Bustarif fährt und bei Bedarf über 60jährige zur Arztpraxis oder zum Einkaufen bringt. Seit November sollen zwischen neun und elf Uhr Angehörigen der Risikogruppen Einkaufsgelegenheiten ermöglicht werden. Bürger über 65 erhielten schützende FFP2-Masken. Es wird regelmäßig zu kostenlosen Testungen für das Personal in der Altenpflege aufgerufen und zugleich Geld bereitgestellt, das zu bezahlen. Seit September wurden regelmäßige PCR-Tests aller Beschäftigten in der Altenpflege gestartet. Verantwortungsvolles Handeln geht also – diese Beispiele machen Mut.

„Die Pandemie durch Sars-CoV-2/Covid-19 – Sorgfältige Integration der Impfung in eine umfassende Präventionsstrategie“:  matthias.schrappe.com