© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Ruhe vor dem Beschluß
AfD: Noch vor der Entscheidung über eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz setzt die Partei auf juristische Abwehr
Christian Vollradt

Kommt sie – und wenn ja, wann? Kaum ein Thema jenseits von Lockdown und Corona scheint Berlins Hauptstadtjournalisten so in den Bann zu ziehen wie die Frage, ob und wann der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, die Einschätzungen seiner Behörde in Sachen AfD verkündet. Doch dem Eifer der Presse stand zu Beginn der Woche noch die Vorsicht der Juristen gegenüber. Und zwar in doppelter Hinsicht. 

Während bereits über eine tausendseitige Zusammenstellung der Kölner Nachrichtendienstler spekuliert wird, heißt es, die Rechtsexperten im Bundesinnenministerium würden das geheime Gutachten streng unter die Lupe nehmen. Denn im Falle einer aus dem Material abgeleiteten Beobachtung der gesamten AfD wäre nichts peinlicher, als wenn dies bereits nach kurzer Zeit vor Gericht keinen Bestand hätte. Die Partei selbst wollte sich der Geduldsprobe indes nicht aussetzen; sie reichte angesichts des Gerüchterauschens im Blätterwald bereits Ende vergangener Woche Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln ein.

Danach sollen die Richter dem Bundesverfassungsschutz untersagen, die AfD, „eine im Bundestag, im Europäischen Parlament und in allen Länderparlamenten vertretene politische Partei mit rund 34.000 Mitgliedern“, als „Verdachtsfall“ oder gar als „gesicherte extremistische Bestrebung“ einzuordnen beziehungsweise hochzustufen und dies öffentlich bekanntzugeben. 

„Vorsatz kann nicht nachgewiesen werden“

Seit vergangenem Jahr stuft der Verfassungsschutz den inzwischen aufgelösten „Flügel“ als eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ ein, die Nachwuchsorganisation Junge Alternative gilt als „Verdachtsfall“. In Thüringen, Brandenburg und seit diesem Monat auch in Sachsen-Anhalt wird jeweils der gesamte Landesverband beobachtet. Mit der Einstufung als Verdachtsfall kann die AfD dort mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht werden. Dazu gehören unter anderem die Anwerbung und der Einsatz sogenannter V-Leute, das Verfolgen von Finanzströmen sowie das Abhören, Mitlesen und Überwachen der Kommunikation von AfD-Mitgliedern und -Funktionären. In Brandenburg hat die AfD jüngst unter anderem eine Organklage eingereicht, weil sie durch diese Einstufung ihre verfassungsmäßigen Rechte auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb verletzt sieht. 

Auch die Bundes-AfD argumentiert in ihrer vergangene Woche eingereichten Klageschrift gegen einen „unmittelbar drohenden staatlichen Eingriff in den demokratischen Wettbewerb kurz vor den anstehenden Wahlen“. Würden nachrichtendienstliche Mittel gegen eine Oppositionspartei eingesetzt, hätte dies  „ganz erhebliche negative Auswirkungen“ auch „auf den demokratischen Willensbildungsprozeß“. Dadurch könne die Grenze zu „unzulässiger Wahlwerbung“ überschritten werden. 

Inhaltlich führt die Partei in der Klageschrift eine Reihe von eigenen Maßnahmen an, die einer Einstufung zum Verdachtsfall entgegenstünden. So sind die Ausschlußverfahren gegen mehrere Protagonisten des „Flügels“ erwähnt, ebenso der jüngst wiederholt gefaßte Grundsatzbeschluß zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder die „Erklärung zum Deutschen Staatsvolk und zur Deutschen Identität“, mit der sich die AfD „vorbehaltslos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen“, bekennt. Zudem sei bei den Nachwahlen zum Bundesvorstand in Kalkar keine Position mit einer Person besetzt, die der Verfassungsschutz „in den vorherigen Verfahren dem ehemaligen ‘Flügel’ zuordnen“ wollte.

Das BfV hat in Reaktion darauf zunächst eine soge­nann­te Still­hal­te­er­klä­rung vor Gericht abgegeben. Damit sicherte die Behörde zu, sich bis zu einer Entscheidung des Gerichts im Eilverfahren nicht in der Sache zu äußern. Die stand bei Redaktionsschluß noch aus.

Im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Beobachtung der Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz demnächst ansteht, sorgte nun ein durchgestochener („geleakter“) Zwischenbericht des Berliner Verfassungsschutzes für Furore. Denn das als „VS-NfD“ (Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch) eingestufte 43seitige Dokument, das die JUNGE FREIHEIT zuerst veröffentlichte und dessen Echtheit die Behörde von Innensenator Andreas Geisel (SPD) bestätigte, kommt zum Ergebnis: Aus der „Gesamtschau der aufgeführten Belege und Erkenntnisse sind keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der AfD Berlin ersichtlich, die eine Erhebung zum Verdachtsfall rechtfertigen können.“

Zwar führt das Gutachten Aussagen einzelner AfD-Politiker auf, die beispielsweise den Staat verunglimpften oder rechtsextremistische Theorien aufgriffen. Doch sei nicht alles, was „im Grenzbereich des Zulässigen“ liege, schon verfassungsschutzrelevant. So biete das Wahlprogranm keine Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung. „Zur Annahme einer verfassungsfeindlichen Bestrebung bedarf es immer einer Aktivität zur Beseitigung oder zu einer Umgestaltung der Staats- und Gesellschaftsordnung in einer Richtung der mit den Grundprinzipien der fdGo (freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die Redaktion) nicht zu vereinbarenden Ordnung. Die verfassungsfeindlichen Bestrebungen müssen von einem direkten Vorsatz begleitet sein. Den Akteuren muß es auf den verfassungsfeindlichen Erfolg gerade ankommen. Dieser Vorsatz kann der AfD Berlin nicht nachgewiesen werden“, heißt es im Text. 

Der Landesverband habe sich zudem um Abgrenzung bemüht und Parteiausschlußverfahren eingeleitet. Der „Einfluß des ‘Flügels’ auf die AfD Berlin wird als sehr gering bewertet. Weder stellen ‘Flügel’-Anhänger einen quantitativ signifikanten Teil der Mitglieder der AfD Berlin, noch dominieren ‘Flügel’-Vertreter die politische Agenda. Im amtierenden Not-Vorstand ist nur eine ‘Flügel’-Vertreterin bekannt“, so die Analyse. Eine Erhebung der Partei zum Verdachtsfall hätte demnach auch weitreichende rechtliche Konsequenzen, warnen die Verfasser: „Im Vorfeld von Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sowie zum Deutschen Bundestag im September 2021 sollte eine Einschätzung zur Frage, ob es sich bei der AfD Berlin um einen extremistischen Verdachtsfall handelt, besonders sensibel angegangen werden. Denn eine unzutreffende Etikettierung als ‘extremistisch’ könnte zu einer nachhaltigen Wettbewerbsverzerrung führen.“

In der SPD-regierten Innenverwaltung war man nach diesem „Leak“ alles andere als erfreut. Senator Geisel stellte den Referatsleiter Rechtsextremismus im Verfassungsschutz von seinen Dienstpflichten frei. In der Öffentlichkeit bemühte man sich umgehend um Schadensbegrenzung. Das Papier sei nur „eine unabgestimmte Arbeitsfassung“ voller methodischer Fehlern und fachlicher Unzulänglichkeiten. 

So werde darin zu wenig auf die Verbindungen einzelner AfD-Funktionäre zu extremistischen Gruppierungen eingegangen. Außerdem werde die mögliche Rolle von Berliner AfDlern bei den Anti-Corona-Demonstrationen und dem „Sturm“ auf die Reichstagstreppe im August nicht untersucht. Experten zufolge sei das Papier zu niedrig eingestuft, um als Beitrag der Berliner Behörde für die Entscheidung des Bundesamts für Verfassungsschutz relevant zu sein.

Dennoch sehen sich innerhalb der AfD nun insbesondere jene durch das durchgestochene Papier bestärkt, die auf eine klare Grenzziehung ihrer Partei nach Rechtsaußen bestehen. Denn in der Auswertung werde ja gerade die Sanktionierung von Verstößen einzelner als Hinweis darauf bewertet, daß die AfD verfassungskonform ist. Dies sei ein gewichtiges Argument gegen jene Parteimitglieder, die meinen, man könne eh nichts gegen eine Beobachtung ausrichten.

„Gerade Beamte sollen jetzt nicht austreten“

Gerade auch mit Blick auf die juristische Gegenwehr gegen eine mögliche Verfassungsschutzbeobachtung wurde unterdessen in Parteikreisen eine Entscheidung des Berliner Kammergerichts vom vergangenen Freitag mit Erleichterung aufgenommen. Der Zivilsenat hat die Berufung des früheren Brandenburger AfD-Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz gegen das Urteil des Landgerichts vom August vergangenen Jahres abgelehnt. Damit ist Kalbitz – bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren – weiterhin kein Mitglied der AfD mehr. Laut den Richtern beruhe die Entscheidung des Bundesschiedsgerichts der AfD weder auf „falscher Tatsachengrundlage“ noch sei sie „evident rechtswidrig“.

Unterdessen hat die hessische AfD Anfang der Woche eine äußerst heikle Personalie lösen müssen. In Kassel war bekanntgeworden, daß ein AfD-Kandidat für die anstehende Kommunalwahl zuvor im „Neonazi-Netzwerk ‘Blood & Honour’“ aktiv war, das auf der Unvereinbarkeitsliste der Alternative für Deutschland steht. Man habe daraufhin die sofortige Annullierung der Mitgliedschaft beschlossen, die er sich auf dem Wege der Täuschung zuvor erschlichen habe, stellte der Landesvorsitzende Klaus Herrmann fest. 

Insbesondere in den westdeutschen Landesverbänden ist die Sorge nicht zu unterschätzen: Sollte der Verfassungsschutz tatsächlich die gesamte Partei ins Visier nehmen, dann fürchten viele vor allem den Abgang von verbeamteten Mitgliedern oder Bundeswehrangehörigen. Das wäre ein herber Verlust für eine Partei, die sich selbst als Fürsprecherin insbesondere der Staatsdiener in Uniform und als Interessenverterteerin für die Angehörige der Sicherheitsorgane versteht. 

Erstmals seit 2015 muß die AfD tatsächlich einen Rückgang ihrer Mitgliederzahl verzeichnen. So gehören ihr 32.000 Mitglieder an, vor einem Jahr waren es noch 34.750. Das gehe, so heißt es aus der Partei, zum einen auf die Bereinigung von „Karteileichen“ zurück, etwa durch Streichung von Mitglieder, die jahrelang keine Beiträge mehr gezahlt hätten. Doch das dürfte nicht der einzige Grund sein. Hinter vorgehaltener Hand beklagt mancher Funktionär, es hätten sich auch Leute aus der AfD verabschiedet, die sich nicht länger der gesellschaftlichen Stigmatisierung aussetzen wollten. 

Um so eindringlicher die Appelle führender AfD-Politiker: „Wichtig ist, daß insbesondere die Beamten und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes die Ruhe bewahren und nicht austreten“, fordert der stellvertretnde Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Leif-Erik Holm. „Haldenwang hat ja ausdrücklich eingestanden, daß unser Programm kein Anlaß für eine Beobachtung ist. Daran können wir anknüpfen“, sagte Holm der JUNGEN FREIHEIT.

Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek, der die Arbeitsgruppe Verfassungsschutz der AfD rechtlich beraten hat, hatte schon früher „jedem Beamten, Soldaten oder Angestellten im öffentlichen Dienst dringend geraten, sich im Falle der Beobachtung seiner Partei durch den Verfassungsschutz von verfassungsfeindlichen Kräften innerhalb der Partei entschieden abzugrenzen und sich für eine verfassungsmäßige Ausrichtung der Partei einzusetzen“. 

 Den „geleakten“ Zwischenbericht des Berliner Verfassungsschutzes finden Sie unter: https://assets.jungefreiheit.de

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