© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Wir fahren auf Sicht. Wohin?
Perspektiven: Drei mögliche Wege können uns aus dem Krisenmodus führen / Lockdown ist der billigste
Mathias Pellack

Gefangenenlager, Haftanstalt, oder Arrestanstalt. So lauten mögliche Übersetzungen für das englische Wort „detention center“, mit dem britische Medien, Sachsens geplante Einrichtung für eine zwangsweise Unterbringung von Personen betiteln, die sich nicht an Quarantäne-Auflagen halten. Als Pilotprojekt dient eine leerstehende Flüchtlingsunterkunft. Eine „Absonderungseinrichtung“ im schleswig-holsteinischen Neumünster soll bereits ab dem 1. Februar einsatzbereit sein. Sie befindet sich auf dem Gelände einer Jugendarrestanstalt. In Brandenburg ist das bereits Praxis.

Die Verletzung der Quarantäne ist in Deutschland im Gegensatz zu einem Gefängnisausbruch sanktionsbewehrt. Trotzdem in beiden Fällen Beschränkungen zentraler Freiheiten vorgenommen werden, billigt der Staat dem Quarantäne-Flüchtling nicht den menschlichen Wunsch zu, ausreißen zu wollen. 

Als besonders belastend empfinden viele die Perspektivlosigkeit, mit der die Maßnahmen verhängt wurden. Denn es gibt auch nach bald einem Jahr Pandemiestatus keine Exit-Strategie. Werden die Maßnahmen gelockert, wenn die Inzidenzen unter die Zahl 50 gefallen sind? Bleiben sie in Kraft, bis Deutschland frei von Sars-CoV-2 und seinen Mutanten ist? Oder soll gewartet werden, bis zumindest jeder die Möglichkeit hatte, sich impfen zu lassen? Sollen Geimpften gar zuerst ihre Freiheitsrechte wieder eingeräumt werden, wie es Außenminister Heiko Maas vorschlug?

Drei verschiedene Strategien werden jetzt diskutiert. Zum einen die NoCovid-Strategie: Hier soll die Ansteckungszahl pro 100.000 Personen, die sogenannte Inzidenz, auf null gebracht werden – das Virus also vollständig ausgerottet werden. Die Vorteile dieser Strategie sind einfach beschrieben: Es gäbe keine Neuinfektionen, demzufolge auch keine Todesfälle an oder mit Corona. Außerdem kann so die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Mutanten, gegen die die jetzt entwickelten Impfstoffe wirkungslos wären, gesenkt werden.

Kann Deutschland Corona gänzlich besiegen?

Notwendig wären dafür unabsehbar lange und auch weitaus härtere Einschränkungen als die aktuellen. Es bräuchte grüne Zonen – Bereiche ohne Corona, in denen ein Normalbetrieb möglich wäre. Personen, die in diese grünen Zonen einreisen wollen, müßten durch eine Corona-Schleuse, in der beispielsweise Schnelltests gemacht würde.

Neuseeland und Australien konnten eine ähnliche Strategie verfolgen, weil sie geschützt durch ihre Insellage frühzeitig alle Verbindungen unterbrechen konnten. Beide Länder melden auch jetzt noch täglich Coronafälle in ein- bis zweistelliger Zahl. Nicht alle stellen Einreisen über die Landesgrenzen dar.

Nachteile dieser Strategie sind die harten und langen Einschränkungen, die nicht nur die individuellen Freiheiten beschränken, sondern auch viele weitere Gewerbe in die Insolvenz treiben werden. Der Corona-Schutzschirm, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr gespannt hat und jetzt schon drei volle Jahreshaushalte ausmacht, müßte dafür beträchtlich erweitert werden. Sprich: Deutschland müßte massiv Schulden aufnehmen. Zusätzlich ist höchst ungewiß, ob eine solche Strategie in Ländern wie Deutschland umgesetzt werden könnte, da das Virus schon weit verbreitet ist. Australien hatte zu Hochzeiten maximal 721 Infektionen am Tag – Deutschland über 30.000.

Die zweite Strategie könnte darin bestehen, im Corona-Modus zu bleiben, bis allen Bürgern ein Impfangebot gemacht werden konnte. Die Impfung schützt wahrscheinlich sogar vor der Virus-Weitergabe, wie Daten aus Israel zeigen. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin, daß die Lockdownmaßnahmen zurückgenommen werden könnten, wenn eine Kombination von Inzidenzwert unter der älteren Bevölkerung und der Belegung der Intensivstationen das zuläßt. Eine Corona-Ampel, wie sie Berlin nutzt, könnte die regionalen Maßnahmen festlegen. In diesem Szenario könnten schon ab Beginn des Frühlingswetters Maßnahmen zurückgenommen werden, wie frühere Wellen von Krankheiten, die die Atemwege befallen, gezeigt haben.

Notwendig wäre hier ein besserer Schutz der Risikogruppen, sprich besonders der alten Mitbürger. Mehr, bessere und schnellere Test könnten die Kontaktbeschränkungen abmildern und individuelle Sicherheit bieten.

Gesellschaftlich akzeptierte Grundrisiken

Die Gefahr bei dieser Verfahrensweise besteht in einer möglichen Mutation des Virus in der Art, daß Impfstoffe unbrauchbar werden. Bei Anfang Januar über 4.020 veränderten bekannten Varianten von Sars-CoV-2, ist das nur eine Frage der Zeit, wenngleich die große Mehrzahl stille Mutationen sind, also keine Änderung des Virus hervorrufen. Alternativ könnte Deutschland die Maßnahmen schon zurücknehmen, wenn allen über 60jähringen ein Impfangebot gemacht werden konnte. Bei allen anderen Altersgruppen ist das „kollektive Gesundheits- und Todesrisiko durch Corona an sich nicht außerhalb des Rahmens gesellschaftlich akzeptierter Risiken wie Rauchen, Alkohol oder Straßenverkehr“, wie Boris Palmer in der Welt schreibt. Ausgehend von der derzeitigen Impfgeschwindigkeit könnte Deutschland das Ziel bei fast 24 Millionen über 60jährigen bis Mitte Februar 2022 erreichen.

Der Schutz der tatsächlich Gefährdeten muß oberste Priorität bekommen. Ansonsten bleibt nur der dritte Weg übrig, den die Regierung seit Beginn der Pandemie fährt: auf Sicht.

Was genau das Ziel ist, bleibt indes unklar, solange auf kurze Sicht ein gangbarer Weg erkennbar scheint. Kollateralschäden wie die Verschlechterung der Bildung von über acht Millionen Schülern in Deutschland, ungeheure Schuldenberge und unzählige Insolvenzen werden dabei genauso weiter hingenommen werden müssen wie der schlechte Schutz der Risikogruppen, bei denen der Lockdown im November die Ansteckungszahl nicht drücken konnte. Eine weitere Verschärfung der Maßnahmen muß der Regierung so geboten scheinen, ist aber in ihrer Wirksamkeit laut einer Studie des Standford-Gesundheitsstatistikers Ioannidis fraglich.

 Der Vorteil dieses Wegs ist: Er kostet die Regierung wenig Aufwand – die Lasten tragen die Bestatter und vor allem die künftige Generation.

(Grafiken siehe PDF)