© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Abels Rache
Essay: Eine neue Form des Nomadentums wird in der Postmoderne zur dominierenden Lebensweise
Konstantin Fechter

Als die Zeit noch jung war, brannten in der kargen Wüstensteppe jenseits von Eden zwei Scheiterhaufen. Auf dem einen verschlang das gierige Feuer Fett, Sehnen und das Fell von Ziegen, auf dem anderen dienten aufgeschichtete Hülsenfrüchte und Korn als Nahrung für die Flammen. Aufmerksam folgten ihnen die Augen zweier Männer. Sie scherzten und zogen einander auf, mühsam und mit gefletschten Zähnen, nur schwerlich die fiebrige Spannung zwischen ihnen überspielend.

Als dann der Rauch des einen Feuers immer höher stieg und die nahe Wolkendecke durchbrach, hatte ihr Gott entschieden, welches der beiden Opfer sein Wohlgefallen erregte. Kain aber, der die Schmähung durch seinen Gott sah, überkam unbändige Wut. Getragen von blindem Zorn riß er einen Knochen aus Abels Scheiterhaufen, er muß noch glühend heiß gewesen sein, und erschlug seinen Bruder auf der Stelle. 

Die alttestamentarische Darstellung der Söhne Adams schildert nicht nur den ersten Mord der Menschen, den Beginn ihrer Geschichte als fortwährende Tragödie. Sie ist auch ein Gleichnis von der Dominanz der seßhaften Lebensweise des Bauern Kain gegenüber dem nomadisierenden Hirtentum Abels. Über Jahrtausende galt, daß die an den Ort gebundene Wirtschaftsform des Ackerbaus dem Sammeln und Jagen durch weit verstreute Reviere überlegen war. Die Festlegung an eine Stelle, das Verwurzeln mit der Erde, sprich die Erfindung des Ortes wurde zur Grundlage jeder leistungsfähigen Kultur.

Und je mehr Zikkurate aus Lehm geformt wurden, desto weiter wurden die wandernden Völker an den Rand der Welt gedrängt. Zuletzt fand man die Überreste ihrer Stämme an der geographischen und klimatischen Peripherie: den dichtesten Dschungeln, lebensfeindlichsten Wüsten und entlang der kargen Eisküsten Feuerlands oder Sibiriens. Nomaden, so entschied das unbarmherzige Urteil der Weltgeschichte, waren die Verlierer des Zivilisationsprozesses. Ein Anachronismus, der bald vollständig unter Beton und Strommasten begraben sein würde. 

Doch die Welt der Postmoderne scheint diese lange gültige Gewißheit, wie so viele andere ebenfalls, außer Kraft gesetzt zu haben. Das 21. Jahrhundert ist die Zeit der großen Ströme. Wie pulsierende Adern umziehen sie die Erde, transportieren Rohstoffe, Waren, Menschen und Daten und bilden dadurch das Kapillarsystem der Globalisierung. 

Dieser Kreislauf ist darauf angewiesen, daß permanenter Druck für einen ständigen Austausch des Alten durch ein nachdrängendes Neues sorgt. Durch dieses stetige Verwischen hält sich die Postmoderne selbst am Leben. Mit ihr beginnt die Ära des Transitorischen, in welcher der Mensch einen flüchtigen Zustand annimmt. In dieser umfassenden Entwurzelung kann als Bezugspunkt nur eines dienen, die Ortlosigkeit. Alles an scheinbar überkommenen kulturellen, religiösen und identitären Beständen gilt als Ballast auf dem Weg ins unbekannte Reich der Vielfalt. Unter Emanzipation versteht die Postmoderne ein Durchtrennen der Bindung zu allem, was Halt gab und dadurch zugleich als Behinderung wahrgenommen wurde. Im unfixierten Leben, dem Aufgehen im Fluß des Beliebigen und Nichtfestgelegten sieht sie hingegen die Grundlage von individueller Autonomie. 

Am beweglichsten ist das Kapital. In wenigen Sekunden verschiebt es sich über Kontinente, stets dorthin strebend, wo es sich vervielfachen läßt. Es hat schon vor langer Zeit erkannt, daß Heimat und bindende Struktur nicht nur von bedingtem Nutzen sind, sondern vielmehr durch ihre Verpflichtung zur Immobilität den globalen Einsatz und Austausch von Arbeitskraft schmälern. Identität ist ineffizient. Nicht nur in den hochgelegenen Etagen der Weltwirtschaft bilden sich die Nester der Zugvögel, deren Schwärme von einem goldenen Käfig zum anderen ziehen und dort auftauchen, wo Auftragslage und Eignung übereinstimmen. Wanderarbeiter aus aller Welt richten sich gefügig in großen, hastig aufgestellten Bienenstöcken ein.

Als Begleiterscheinung der großen Beschleunigung ins Unverbindliche erfolgt auf dem Zenit des technischen Zeitalters paradoxerweise eine kulturelle Regression und längst überwunden geglaubte Daseinsformen erfahren eine bemerkenswerte Aktualität. So auch der Nomade, jener Wanderer, der kein Heim außer dem Weg kennt und dadurch wieder Grundlage eines Lebensgefühls von vielen wird. Im Verdrängungskampf der Globalisierung ist nun dieser umherziehende Informationssammler und nicht der Seßhafte der Bestangepaßte auf die Veränderungen, welche eine digitalisierte und schnellebige Welt mit sich bringt. Denn das neu entstehende Beduinentum dieser Tage reagiert auf den „Verlust des Ortes“ (Volker Mohr) von mehr und mehr Individuen. Verhaftung im Ursprünglichen wird selbst für die Bindungswilligen zunehmend schwieriger realisierbar. Immer größer werden die Strecken, welche den Arbeitenden von der Arbeit trennen. Der Weg führt längst nicht mehr zur eigenen Werkbank, sondern zu Bahnhöfen und Flughäfen, die zum Sinnbild der postmodernen Rastlosigkeit avancieren. Der befristete Arbeitsvertrag ersetzt die Festanstellung, das Visum den Paß. Ist das Werk vollbracht, zieht es die neuen Nomaden schnell weiter. Es gibt auch nichts, was sie an dieser Stelle halten würde, denn es gilt im Strom zu bleiben. 

Je größer das „Globale Dorf“ wird, jene weltweite Datenverdichtung, vor deren individualitätsauslöschender Tendenz der kanadische Philosoph Marshall McLuhan schon 1962 in seinem Werk „The Gutenberg Galaxy“ warnte, desto mehr frißt sich die Ortlosigkeit ins reale Stadtbild der Postmoderne. In ihrer Phantasie- und Konturlosigkeit gleichen immer mehr Trabantenstädte einander aufs Haar. Es spielt keine Rolle mehr, welchen Kontinent man aufsucht, es empfängt dieselbe Bauhaustristesse austauschbarer Glasbauten. Sie simulieren eine Art Transparenz, doch in Wirklichkeit sind die Handlungen von Regierung und Finanzbranche für die Uneingeweihten längst undurchschaubar geworden.

Die großen Plätze aber, einst Stolz der Nationen und Bühne historischer Wendepunkte, verschwinden. Sie weichen endlosen Straßenzügen, durchrationalisierten Konstrukten von Wohnparzelle, Gewerbeeinheit und steriler Grünfläche. So lieblos arrangiert wie das kurzfristige Nachbarschaftsverhältnis ihrer Bewohner.

Die Konservierung des Gesichtslosen aber liegt der Postmoderne am Herzen. Was innerlich nicht bewegt, zu nichts anregt und daher niemanden zur Niederlassung verleitet, das soll bleiben an den Nichtorten, die sich noch Städte nennen, aber in Wirklichkeit längst zu riesigen Bahnhofshallen geworden sind. Ihre Mieter sind nur pausierende Reisende. Die architektonische Restauration, die Verortung durch Wiederherstellung alter Bestände und organischer Gefüge wird hingegen mit feindseligem Ressentiment betrachtet.

Ein weiteres Merkmal des Nomaden, das Durchstreifen der unbarmherzigen Wildnis, wird in den Großstadtdschungeln erneut zur Bewährungsprobe. Je mehr sich die Metropolen zu Nichtorten wandeln, desto mehr verlieren ihre immer willkürlicher zusammengewürfelten Bewohner den Bezug zu ihnen. Sie werden zum Moloch, einer Ansammlung von Unordnung, Dreck und Gefahr. Die Bürgerschaft verkommt zum Raubtierrevier, je nach Viertel mit unterschiedlicher Bedrohungslage. Wer es durchstreift, der benötigt eine Machete, um sich der Übergriffe durch die Weltgestrandeten zu erwehren. 

Der britische Schriftsteller Bruce Chatwin beschreibt in dem Roman „Traumpfade“ seine Reisen durch das Landesinnere Australiens während der 1980er Jahre. Im Mittelpunkt seines Erlebnisberichts stehen die Traumpfade, jene unsichtbaren und mythischen Landkarten der Aborigines, die durch Gesang von Generation zu Generation weitergegeben werden.

In der Wanderung der australischen Ureinwohner, bei der jeder Schritt eine spirituelle Rückbindung an den Geist der Vorfahren besaß, sah Chatwin eine Möglichkeit, den heutigen Menschen mit sich selbst zu versöhnen. In der Aufgabe der Seßhaftigkeit erblickte er die Chance, der globalen Gesellschaft ihre ursprüngliche Naturordnung zurückzugeben: „Ich stehe unter dem Zwang zu wandern, und ich stehe unter dem Zwang zurückzukehren – eine Art Instinkt wie bei einem Zugvogel. Echte Nomaden haben kein festes Zuhause als solches, sie kompensieren das, indem sie immer gleichen Migrationswegen folgen.“ 

Was dem einzelnen Geeigneten als temporär reizvolle Lebensgestaltung erscheint, scheitert jedoch auf kollektiver Ebene. Denn Chatwin überhöht die persönliche neurotische Unruhe seiner Zeit zu einem allgemeingültigen anthropologischen Merkmal. Für eine Neuerschließung archaischer Bewußtseinszustände und deren Nutzung als postmoderne Traumpfade mangelt es aber an metaphysischer Grundlage. Die Unübersichtlichkeit der großen Wanderung verbirgt den Blick auf den wahren psychopathologischen Zustand der neu Umherstreifenden. Diese werden anhand von Gesetzen verschoben, die keineswegs selbst- oder naturbestimmt sind. Weder im Äußeren noch im Inneren ist ihnen Heimat oder Identität verblieben. Sie treibt allein die ständige Jagd nach dem kurzen Glück des Augenblicks. Rastlosigkeit und ein unausgesprochenes Gefühl des Verlustes erfahren Kompensation durch weitere Beschleunigung und den Sprung über noch größere Distanzen. Sie bleiben Fremde, an jedem neuen Halt, aber vor allem auch vor sich selbst. 

Die postmoderne Ironie resultiert daraus, daß sie die Dinge nicht zu Ende denkt. Sie favorisiert und romantisiert das digitale Nomadentum als Form der Befreiung aus Zuständen, die sie selbst mitverursacht hat, übersieht aber deren wahren kulturellen Kern. Denn der historische Nomade war nicht vollständig ungebunden, kein Verlorener im Nichts. Genau wußte er, wohin seine Wege ihn führten, wieviel Strecke am Tag zurückzulegen war. Er war gebettet in eine Stammestradition, trug seine Kleidung nach strengen Regeln und konnte jede Weggablung mit einer Sage über seine mythischen Ahnen verbinden.

Vor allem aber lief er nicht vor sich selbst davon. Im endlosen Zug durch die Steppen war er sich seines wahren Platzes an der Seite der Seinen sehr wohl bewußt. Die gehetzten Gesichter, welche die Fluglinien zwischen Berlin, Los Angeles und Singapur bevölkern, sind jedoch mit dieser Ruhe des Wandernden nicht in Einklang zu bringen. Sie sind nicht die Söhne Abels, sondern immer noch die Nachkommen von Kain. Einst seßhaft, doch aufgrund der Rebellion gegen die alte Ordnung verflucht, ziehen sie nun erneut unruhig durch die Lande jenseits von Eden.

Hierin liegt die Rache von Abel, da die Würde des Hirten in einer Zeit der Auflösung nicht mehr rekonstruierbar ist. So tritt nichts an den Verlust des Ortes. Mit ihm gehen Heimat und Identität verloren, werden zur Fata Morgana in Sichtweite ausgetretener Pfade.