© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

„Wir sind mehr!“
Erst mündig, dann entmündigt: Die Berliner Republik am Endpunkt der Verfallsgeschichte bürgerlicher Öffentlichkeit
Dirk Glaser

In einem der literaturhistorisch gern als „Heimatromane“ unterschätzten Texte des sozialrevolutionären Erzählers und Dramatikers Ludwig Anzengruber (1839–1889) klagt ein arg lädierter Bauer: „Gestern ham’s mich im Gasthaus verprügelt.“ Worauf ihn einer der Umstehenden fragt: „Warum?“Antwort: „Weil’s mehr woar’n!“

Wirtshausschlägereien und ähnlich gewaltsame Auseinandersetzungen werden in der Tat zumeist von zahlenmäßiger Übermacht entschieden. Daß sich hingegen, so geschehen nach der Tötung eines Deutschen durch einen „Migranten“ in Chemnitz im Sommer 2018, staatliche Institutionen, Bundesregierung und Bundespräsident, hinter eine „zivilgesellschaftliche“ Initiative stellten, die unter der Parole „Wir sind mehr!“ wieder einmal eine Debatte über die verheerenden Folgen der Masseneinwanderung unterdrückte, war ein beunruhigendes Symptom der aktuellen schweren Krise der Demokratie. 

Denn die Berufung auf nichts als nackte „Mehrheit“, die notfalls mit Hilfe der gewalttätigen, staatlich alimentierten „Antifa“ triumphiert, verabschiedet das zentrale Dogma des liberal-demokratischen Glaubens, wonach gesetzlich fixierte Regeln sozialen Zusammenlebens aus rationaler Überzeugungsbildung, aus dem Austausch von Argumenten in öffentlicher Diskussion, entspringen. Die hier proklamierte „alternativlose“ Mehrheit legitimiert sich hingegen nicht länger mit besseren Argumenten, sondern allein mit ihrer Überzahl. Nicht die Wahrheit macht nach dieser neudeutschen Praxis das Gesetz, sondern, im bemerkenswerten Rückgriff auf den „vordemokratischen“ Staatsdenker Thomas Hobbes, die potente Autorität. „Auctoritas, non veritas facit legem“.

Für die Beiträger des Themenhefts „Öffentlichkeit“ der Zeitschrift Sprache und Literatur (49/2020) ist diese Entwicklung weg vom kantischen Ideal diskursiver Wahrheitssuche, weg von der Öffentlichkeit als notwendigem Prinzip vernünftiger Politik, hin zur „Vermeidung aktiver Meinungsbildungsprozesse“, keine Überraschung. Weil sie die wohl einflußreichste aller sozialwissenschaftlichen Habilitationsschriften gelesen haben und in Erinnerung rufen, Jürgen Habermas’ mit Abstand bestes Buch, seine Studie über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von 1962. Darin zeigt er auf, welche hohen Erwartungen sich auf „Öffentlichkeit“ als Kategorie politisch-sozialen Lebens seit der Frühen Neuzeit richteten. Schon Martin Luther galt es als Zeichen einer „guten Obrigkeit“, daß sie nichts im Verborgenen halten muß. Veröffentlicht, so die Hoffnung, trete die Wirklichkeit in unverstellter Klarheit zutage.

Gestaltungsmacht im Zeitalter der Aufklärung

Noch hinter der im 19. Jahrhundert verwirklichten liberalen Forderung nach Öffentlichkeit des Gerichts stand die Erwartung, daß nur eine öffentliche Verhandlung, nicht der in Hörweite der Folterkammer abgehaltene, geheime Inquisitionsprozeß, den wahren Sachverhalt ans Licht bringe und eine gerechte Urteilsfindung garantiere.  

Den von Habermas bis ins soziologische Detail geschilderten Höhepunkt emphatischen Zutrauens in die sozialregulative, kulturverändernde, glückversprechende Gestaltungsmacht „kritischer Öffentlichkeit“ war im Zeitalter der Aufklärung erreicht. Damals formierten sich bürgerliche Institutionen wie Zeitungen, Zeitschriften, Theater, Bibliotheken, Lesezirkel, Konzerte, Museen, die dem gebildeten Publikum Bühnen boten, um miteinander „vernünftig“ zu kommunizieren, sich „aufzuklären“ und sich gemeinsam zu selbstbestimmter Existenz zu verhelfen. Zunächst hob das „Räsonieren“ über Gegenstände der Kunst und Literatur an, ging aber nach der Französischen Revolution allmählich auch über zu Fragen der Politik und zur Beurteilung von „Staatsangelegenheiten“. Es gebe keine Angelegenheit, so forderte der Leipziger Rechtsgelehrte Christian Daniel Erhard 1793, bei der „dem Publicum so gewiß eine Stimme gebührte, und bei welcher sie so sehr zu hören wäre, als gerade die Gesetzgebung“. 

„Damit war der Weg gewiesen: das nun als ‘mündig’ postulierte bürgerliche Publikum drängte zur Teilhabe am öffentlichen Leben des Staates“ (Lucian Hölscher, 1978). Ein Anspruch, der sich im Verlauf der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts in den Parlamenten der konstitutionellen Monarchie, zuletzt im Reichstag von 1871 erfüllte.

Zu diesem Zeitpunkt jedoch, in der Epoche der Industrialisierung und Verstädterung mit ihren tiefgreifenden sozialen Umwälzungen, so behauptet Habermas in seiner als „Verfallsgeschichte“ konzipierten Darstellung, habe sich nicht nur die deutsche bürgerliche Gesellschaft bereits wieder von ihrer Idee demokratischer Selbstorganisation entfernt. Um den Weg einzuschlagen, der in Zustände mündete, die die „abgestorbene Öffentlichkeit“ der Bonner Republik prägten.

An die Stelle der „Diskursgemeinschaft“ gebildeter Bürger seien in der modernen Massendemokratie die von Parteien und Verbänden angeheuerten Public-Relation-Agenturen getreten, deren Aufgabe es sei, politische Entscheidungen zum Zweck der Wählermobilisierung an ein durch Rundfunk, Fernsehen und kapitalabhängige Presse mediatisiertes Publikum zu verkaufen. Diese „manipulative Publizität“ entmündige den Bürger und weise den „Meinungs- und Parteienpluralismus“ als demokratietheoretisches Ammenmärchen aus. Und die von Habermas’- Studie inspirierte, von der Studentenbewegung hervorgebrachte, „mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt) wollende „Alternativpresse“ und „Gegenöffentlichkeit“, darunter ein „Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten“, verflüchtigte sich in den 1970ern schnell. 

Die Zeitschrift Sprache und Literatur erscheint im Verlag Wilhelm Fink. 

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