© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Antirassismus ist der neue Rassismus
Identitätspolitik: Weißsein-Kritiker spekulieren auf das schlechte Gewissen der Adressaten
Thorsten Hinz

Im September 2019 verabschiedete das Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität die sogenannte „Jenaer Erklärung“, in der es heißt: „Der Nichtgebrauch des Begriffes Rasse sollte heute und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören.“ Denn in Wahrheit sei es „der Rassismus“ gewesen, „der Rassen geschaffen hat“. Demnach hätten wir bisher in einer Welt aus falschen Konstrukten gelebt, in der „mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert werden“. Dazu zählen die Verfasser auch „die Kennzeichnung ‘des Afrikaners’ als vermeintliche Bedrohung Europas“.

Spätestens dieser Satz macht klar, daß die Erklärung politischem Opportunismus und keiner wissenschaftlichen Redlichkeit entspringt. Die Frage, ob „Rassen“ bloß soziale beziehungsweise rassistische Konstrukte oder doch mehr sind, sei dahingestellt. Jedenfalls ist der Rasse-Begriff heute ein zentrales Element der Identitätspolitik. Deren Wortführer bestimmen die Interessenlagen aus ihrer Herkunft, Kultur, dem Geschlecht, der ethnischen Herkunft, Religion oder eben aus ihrer Rasse und leiten daraus Ansprüche ab. Adressat ist der mythische „alte weiße Mann“, der von seiner Vorherrschaft („White Supremacy“) partout nicht lassen will.

EU-Aktionsplan gegen Rassismus umgesetzt

Die Lautstärke, mit der dagegen gewettert wird, ist Beweis genug, daß sie in Wahrheit gar nicht mehr existiert. Vielmehr gibt es einen staatlich forcierten Antirassismus, der die Forderungen der schwarzen, islamischen und sonstigen identitären Bewegungen sukzessive erfüllt. Die Bundesregierung hat dazu ein Maßnahmenpaket verabschiedet, dessen Kosten sich bis 2025 auf eine Milliarde Euro belaufen. Damit hat sie den „EU-Aktionsplan gegen Rassismus 2020–2025“ umgesetzt, der im September 2020 beschlossen wurde. Zur Anti-Rassismus-Agenda gehört auch der Plan, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen. 

Diese Idee aber hat zu bemerkenswerten Gegenreaktionen antirassistischer Interessenvertreter geführt. Im Juli letzten Jahres insistierte Natasha A. Kelly, eine Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin mit den Forschungsschwerpunkten Kolonialismus und Feminismus, in der taz, „daß der Rechtsbegriff ‘Rasse’ ein notwendiges Instrument ist, um Anti-Schwarzen-Rassismus antidiskriminierungsrechtlich angehen zu können. Es ist daher existentiell wichtig, ‘Rasse’ als widerständigen Begriff anzueignen.“

Kelly ist Gründungsmitglied des Black European Academic Network (BEAN), einer Plattform zur Förderung der Vernetzung und Verbreitung Schwarzer Europäischer Geschichte für Wissenschaftler. 

Kelly betont, „Rasse“ als soziale, nicht als biologische Kategorie zu verwenden, aber ihre Argumentation läuft auf die Negation der erfahrbaren – inklusive der sozialen – Wirklichkeit und im nächsten Schritt auf die Modellierung einer ideologisierten Realität hinaus. Sie halluziniert eine „Schwarze (Großschreibung im Original) deutsche Geschichte“ und kritisiert, daß „deutsch überhaupt als weiß imaginiert wird“. Deutschland benötige eine „rassische Wende“, wozu „Schwarze Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color langfristig an deutschen Universitäten eingestellt“ und „an allen Universitäten Deutschlands Black Studies implementiert werden“ müßten. Es geht, kurzum, nicht um Wissenschaft oder irgendeine wertschöpfende Arbeit, sondern um Lobbyismus, um Subventionen, um die Installierung einer zusätzlichen parasitären Politbürokratie, um die Befriedigung von Herrschafts- und Beuteinstinkten.

Was hierzulande noch im Stadium der Planung ist, wird in den USA bereits umgesetzt. Der neue US-Präsidenten Joe Biden hat die schwarze Bürgerrechtsanwältin Kristen Clarke als stellvertretende Generalstaatsanwältin für die Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums nominiert. Clarke tritt für „rassenbewußte („race conscious“) Zulassungen“ an den Universitäten ein und hat überhaupt in der Rassenfrage eine klare Position:. Die Politik müsse „die Rasse nur in einem positiven Licht – niemals in einem negativen – sehen“. In „einer Welt voller Farben“ könnten die Institutionen nicht „farbenblind“ sein. Was nur bedeuten kann, daß die nichtweiße Hautfarbe beziehungsweise Herkunft wichtiger ist als die Befähigung.

Der Sender Fox News hat enthüllt, daß Clarke während ihrer Zeit als Präsidentin der Black Students Association der Harvard University 1994 einen Artikel für die Studentenzeitung The Harvard Crimson verfaßt hat, in dem die Genetik von Schwarzen mit der von Weißen verglichen wird. Sie bezog sich auf Forschungen, die angeblich eine chemische Grundlage für die kulturellen Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen sind. Demnach besäßen die „Schwarzen größere geistige, körperliche und spirituelle Fähigkeiten – etwas, das nicht nach eurozentrischen Maßstäben gemessen werden kann“.

Clarke erklärt dazu, es habe sich um eine Reaktion auf das Buch „The Bell Curve“ von Charles Murray und Richard Herrnstein gehandelt, die „einen ebenso absurden Standpunkt zum Ausdruck bringen“ sollte. Die beiden Harvard-Wissenschaftler hatten nämlich durch Intelligenztests ermittelt, daß schwarze Amerikaner durchschnittlich einen um etwa 15 Punkte niedrigeren IQ als weiße besitzen, was sie auf deren Gene sowie auf Umwelteinflüsse zurückführten. Selbst das liberale Newsweek-Magazin stellt fest, aus Clarkes Artikel ließe sich nicht entnehmen, daß ihre „Behauptungen über schwarze versus weiße Genetik zu der Zeit nicht ernst gemeint waren“.

Merkmale der weißen Vorherrschaft

Zumindest bezeugt ihr Text ein starkes Kompensationsbedürfnis. Für einen weißen Politiker würde eine vergleichbare Jugendsünde das Karriereende bedeuteten. Hingegen ist der liberale Weiße bei „People of Color“ geneigt, solche Ausfälle – wie die nicht-weiße Identitätspolitik überhaupt – mit Nachsicht zu betrachten: als Übergangserscheinung und Nachwirkung historischer Verletzungen und aktueller Diskriminierung durch den weißen Mann. Sogar die martialischen Aufmärsche der bewaffneten schwarzen Bürgerwehr NFAC verklärt er zur ehrbaren Protest- und Emanzipationsbewegung. Und zwar in der Erwartung, daß zum guten Schluß alle Menschen im Zeichen eines farbenblinden Universalismus zu Brüdern werden,

Die Hoffnung ist trügerisch. Im Sommer 2020 listete das National Museum of African American History and Culture in Washington auf seiner Website unter der Schlagzeile „Talking about race“ mit denunziatorischem Hintersinn die Merkmale und Eigenschaften der „Whiteness“ (Weißsein) auf: Lineares Denken und Beachtung der Ursache-Wirkung-Relation, robuster Individualismus, Selbständigkeit, eine intakte Kernfamilie mit zwei bis drei Kindern – die jeweils über eigene Zimmer verfügen –, eine harte Arbeitsmoral trotz zeitversetzter Entlohnung, Respekt vor Autorität, Pünktlichkeit, Zukunftsplanung, ein am englischen Gewohnheitsrecht orientiertes Justizwesen, Eigentumsrechte sowie gute Umgangsformen.

Angezweifelt wird auch das Kultur- und Geschichtsverständnis, das nordeuropäisch, angelsächsisch, griechisch-römisch und christlich-jüdisch geprägt sei. Und es geht weiter. In Deutschland haben antirassistische Spürnasen auch die Grammatik- und Rechtschreibregeln als kolonialrassistische Repression der weißen Vorherrschaft ausgemacht.

Nun sind das exakt die Tugenden und sozialen Techniken, auf denen die Erfolge Europas und der westlichen („weißen“) Welt beruhen: Wohlstand, technischer Fortschritt, geordnete Staatlichkeit inklusive Gewaltenteilung und Sozialstaat, planvolle Daseinsvorsorge, öffentliche Sicherheit. Eine „rassische Wende“ kann unter diesen Umständen nur eine zivilisatorische Rolle rückwärts bedeuten. Ihre Verfechter wollen an den Errungenschaften des Weißseins teilhaben und zugleich ihre Voraussetzungen aufweichen.

Sie spekulieren auf das schlechte Gewissen, auf die Schuld-und-Scham-Mentalität der „weißen“ Adressaten. Diese Eigenschaften sind die Frucht kollektiver Selbstreflexion und Selbstkritik. Es handelt sich – anders als der gutmeinende und der Aufklärung verpflichtete Europäer glaubt – um keine universalistischen Prinzipien, sondern um partikulare Besonderheiten. Daraus ergibt sich eine gefährliche Asymmetrie: Während die eine Seite sich keine selbstreflexiven Hemmungen auferlegt und aus dem moralischen Vorwurf immer schärfere politische Waffen schmiedet, ist die Gegenseite zur Wehrlosigkeit verdammt. Die Farbenblindheit – die auch aus der „Jenaer Erklärung“ spricht – ist einseitig und realitätsblind, weil sie sich der Tatsache verweigert, daß der Antirassismus sich zum Rassismus gegen Weiße ausgewachsen hat.

Weiße stellen eine immer kleinere Minderheit dar

Wenn alle anderen Ethnien, Rassen, Kulturen, Religionen eine Identitätspolitik betreiben und immer aggressiver ihre gruppenspezifischen Interessen an den „alten weißen Mann“ in dessen eigenem Haus herantragen, bleibt diesem zur Selbstbehauptung nichts anderes übrig, als sich über die eigene Identität neu zu verständigen und seine spezifischen Interessen energisch zu definieren. Dies auch vor dem Hintergrund, daß die Weißen im globalen Maßstab eine immer kleinere Minderheit darstellen. Der Abschied von der universalistischen Illusion muß nicht gleichbedeutend sein mit der Abkehr von Idealen, die über den eigenen Verband – ob staatlich, kulturell, ethnisch, rassisch – hinausweisen. Doch wer in der Politik „Menschheit“ sagt, will bekanntlich betrügen. In diesem Sinne hatte Altkanzler Helmut Schmidt den überhitzten Gesinnungsethikern ins Stammbuch geschrieben, mit dem Neuen Testament unterm Arm lasse sich keine Politik machen.

Der vielgeschähte „alte weiße Mann“ muß endlich eine geistig-moralische Verteidigungslinie ziehen, hinter der er neue Kraft für eine kühle Interessenvertretung schöpft.