© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Die Rückkehr in die Kolonien auf leisen Sohlen vorbereiten
Aufstieg im Eiltempo: Eine Erinnerung an Heinrich Schnee, den letzten Gouverneur Deutsch-Ostafrikas, der vor 150 Jahren geboren wurde
Oliver Busch

Das Deutsche Kaiserreich war keine drei Wochen alt, als es am 4. Februar 1871 in Neuhaldensleben, im Hause des Landgerichtsrats Hermann Schnee, einen Geburtsakt erheblich kleineren Formats zu feiern galt. Ein Stammhalter, getauft auf den Rufnamen Heinrich, hatte das Licht einer Welt erblickt, die sich für ihn in ihrer bürgerlich geordneten Gestalt als Boden des Glücks erweisen sollte. 

Heinrich Schnee durchlief als typischer „Sohn seiner Klasse“ die übliche Bildungskarriere: Vom Nordhausener Gymnasium hinein ins juristische Studium, das mit obligater Promotion abschloß, natürlich begleitet von Korps-Aktivitäten, von deren weniger fidelen Momenten zwei fotogene Schmisse lebenslänglich zeugten. Nach der Referendarzeit verließ Schnee allerdings diese schnurgerade Bahn, an deren Ziel gewöhnlich ein Landratsstuhl wartete. Ihn bewahrte davor jedoch seine Entscheidung, 1897 in den Auswärtigen Dienst einzutreten. Der ihn fast über Nacht aus dem wilhelminischen „Zeitalter der Sicherheit“ (Stefan Zweig) hinauskatapultierte, zurück in die Steinzeit, zu den von ihm mit ethnologischem Feingefühl beschriebenen „kannibalischen Stämmen des Bismarck-Archipels“ („Bilder aus der Südsee“, 1904). Dort in Ozeanien, 1898 als Richter in Deutsch-Neuguinea und 1900 als Bezirksamtmann auf Samoa, auf beiden Posten zugleich stellvertretender Gouverneur, reifte Schnee zum führenden Kolonialexperten des Reiches heran. 

Nach der Rückkehr von der exotischen Front vollzog sich der weitere Aufstieg im Eiltempo: 1904 Legationsrat in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, 1907 Ministerialdirigent, 1911, im Rang eines Ministerialdirektors, Leiter der politischen und Verwaltungsabteilung im Reichskolonialamt. Den Gipfel erreichte Schnee 1912 mit der Ernennung zum Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. 

In der seit 1890 unter geregelter deutscher Verwaltung stehenden Kolonie, die 1905/06 ihren letzten großen Eingeborenen-Aufstand erlebt hatte, wollte Schnee die wirtschaftliche Aufbauarbeit fortsetzen und, wie er sich selbst nicht zu Unrecht bescheinigte, „humane und fürsorgliche Eingeborenenpolitik“ treiben. Der Erste Weltkrieg und der forsche Kommandeur seiner Schutztruppe, Paul von Lettow-Vorbeck, machten ihm einen Strich durch diese Rechnung. Schnee, anglophil, verheiratet mit einer Neuseeländerin, stufte die Verteidigung eines von allen Hilfsquellen abgeschnittenen Territoriums vom doppelten Umfang des Reichsgebiets als aussichtslos ein. Er konnte sich aber gegen den „tollen Mullah“ Lettow nicht behaupten, der vier Jahre lang einen „verbrannte Erde“ hinterlassenden Guerillakrieg führte. Ein britischer Offizier notierte Jahre später, nach einem Lunch mit Schnee, warum der irenische mitteldeutsche Zivilist dem kühnen ostelbischen Adligen unterlag: „Ein freundlicher kleiner Mann, schwach, kein Charakter und ziemlich typisch für zweitrangige Beamte. Er gab mir gegenüber zu, daß von Lettow zu stark für ihn gewesen war.“ 

Hitler sortierte den Streiter für den Kolonialismus aus

Der gemeinsame Triumphzug, hoch zu Roß durchs Brandenburger Tor am 2. März 1919, war denn mit Konsequenz der letzte persönliche Kontakt der Kontrahenten, die auch als Exponenten des „Kolonialrevisionismus“ während der Weimarer Republik sehr unterschiedliche Rollen spielten. Der deutschnationale General mehr dekorativ als Galionsfigur der Veteranenverbände und glorreiche Erinnerungen pflegende Autor („Heia Safari!“, 1920). Der Nationalliberale Schnee als ein im Rahmen der friedlichen Revisionspolitik Gustav Stresemanns operierender, die „Rückkehr auf leisen Sohlen“ (Horst Gründer) vorbereitender, die „Kolonialschuldlüge“ publizistisch bekämpfender Parlamentarier, als Vorsitzender der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft und Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. 

Alles umsonst, da dem „Kolonialgedanken“ schon zu Kaisers Zeiten gesellschaftlicher Rückhalt fehlte. Und nach 1918 plante ein „junger sympathischer Mann“, so Schnee anläßlich der ersten persönlichen Begegnung 1928, die deutsche „Raumfrage“ nicht in Übersee, sondern in Osteuropa zu beantworten. Dieser Mann, Adolf Hitler, schob Schnee, der 1949 bei einem Autounfall ums Leben kam, nach seiner Machtübernahme prompt aufs politische Altenteil.