© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Im Polizeigriff
Zwischen Selbstverteidigung und Behördenausbildung: Ein Berliner gilt als Pionier der asiatischen Kampfkünste in Deutschland
Gil Barkei

Der Sportler Rahn ist eine Legende. Nein, nicht Helmut, und auch Fußball ist nicht gemeint. Dennoch hatte dieser Rahn ebenfalls ordentlich Wums – und die eine oder andere Technik dürfte fast jeder schon einmal irgendwo gesehen haben. Die Rede ist von Erich Rahn, dem Pionier des Jiu Jitsu und des Judo in Deutschland, der neben dem Sport insbesondere die Selbstverteidigung der Sicherheitsbehörden von der Kaiserzeit bis heute prägen sollte. 

Über die Kaufmannstätigkeit des Vaters kam der 1885 in Berlin geborene Rahn in Kontakt mit Japanern (wie dem kaiserlichen Botschafter) und fernöstlichen Varieté-Vorstellungen. Bei einer Darbietung von Jiu-Jitsu-Techniken, welche die Samurai seit dem 16. Jahrhundert zur Verteidigung beim Verlust ihrer Waffen entwickelt hatten, lernte er Meister Katsukuma Higashi kennen. Wie der Asiate einen größeren und schwereren Gegner mit Wurf-, Hebel- und Bodentechniken besiegte, beeindruckte den Heranwachsenden so sehr, daß er ein Schüler Higashis wurde. 

Mit erst 21 Jahren eröffnete Rahn 1906 seine eigene Kampfsportschule im Hinterzimmer einer Kneipe am Spittelmarkt in Berlin-Mitte. Um Jiu-Jitsu und sein Angebot bekannter zu machen, hielt Rahn Vorträge. Doch die Menschen, die den klassischen europäischen Faustkampf vor Augen hatten, fanden keinen Zugang zu den fremdartigen Bewegungsabläufen, den skurril wirkenden Riten und den japanischen Begriffen. 

Also betonte Rahn den Aspekt der Selbstverteidigung, ließ westliche Stile wie Boxen und Ringen einfließen und führte sein Konzept bei Präsentationen und (Schau-)Kämpfen vor. Dadurch wuchs nicht nur das Interesse an seinen Kursen, auch die Polizei der Reichshauptstadt wurde auf ihn aufmerksam. Nachdem Rahn im Juni 1910 das königliche Polizeipräsidium von der „sanften Technik“ überzeugen konnte, erhielt er den Auftrag, erst die Berliner Kriminalpolizei und später auch die Schutzpolizei in Jiu Jitsu auszubilden. 1913 folgte ein Lehrauftrag an der Militärturnanstalt.

Mehrere Stile zu einem System vereint

Um den Sport nach dem Ersten Weltkrieg wieder populär zu machen, reiste Rahn im Zuge einer Promotiontour durch das ganze Land und trat gegen die unterschiedlichsten Disziplinen und  Herausforderer im Freikampf an – erfolgreich. In mehreren deutschen Städten unterrichtete er bald Polizei- und Justizeinheiten. 1920 gründete Rahn den „Ersten Berlin Jiu-Jitsu-Club“, zwei Jahre später den „Zentralverband der Deutschen Jiu-Jitsu-Kämpfer“ und 1923 den „Reichsverband Jiu Jitsu“.

Bei der ersten deutschen Meisterschaft 1922 im Berliner Sportpalast besiegte er im Finale den Münchner Hans Reuter. Im Alter von 40 Jahren zog sich Rahn 1925 unbesiegt von den Wettkämpfen zurück. Mit den sportlichen Erfolgen war auch die Bekanntheit seiner Kampfsportschule gestiegen: 1926 verzeichnete sie bei einem internen Turnier 80 Teilnehmer. 

Es lag nun auch an Rahns Schülern, die Techniken weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Auf sie gehen die ersten Judo- und Jiu-Jitsu-Vereine in Deutschland zurück. Alfred Rhode beispielsweise, der „Vater des Deutschen Judo“, wurde als Polizeisportlehrer von Berlin nach Frankfurt am Main versetzt. Dort gründete er bereits 1922 den „Ersten Deutschen Jiu-Jitsu-Club e. V.“, der später in „1. Deutscher Judo-Club e. V.“ umbenannt wurde. 1933 kam es mit der Schaffung der Europäischen Judo-Union (EJU), dessen Vorsitzender Rhode wurde, zur organisatorischen Trennung von Judo und Jiu Jitsu, das Anfang der Dreißiger bereits 110 Vereine in ganz Deutschland zählte. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren beide Kampfkünste in Deutschland und in Japan durch die Besatzungsmächte zunächst verboten, obwohl sie als Elemente des Budo („Kriegsweg“, Oberbegriff für alle japanischen Stile mit einer Philosophie neben den Kampftechniken) auch eine zentrale „innere Lehre“ enthielten. Erst 1949 wurden sie wieder für die Trainingspraxis freigegeben. 1950 eröffnete Erich Rahn seine Kampfsportschule erneut; diesmal in einem Kellergewölbe in Berlin-Schöneberg. Sein früherer Schüler Alfred Rhode wiederum wurde 1952 der erste Präsident des neugegründeten Deutschen Dan-Kollegiums (DDK), welches alle Budo-Sportarten in Deutschland vertritt.

Aus den dazugehörenden Kampfkünsten sollte 1967 im Auftrag des Bundesinnenministeriums ein übergreifendes, modernes und den neuen Bedrohungen angepaßtes Selbstverteidigungssystem für Polizei, Justiz und Zoll entstehen. Eine Expertengruppe aus mehreren Dan-Trägern entwickelte daraufhin das offene Konzept Ju-Jutsu, in dem Elemente aus Jiu Jitsu, Judo, Karate, Aikido und anderen Stilen zusammenflossen. 1969 wurde es offiziell eingeführt und hat sich seitdem auch zu einer Wettkampfsportart entwickelt. 

Der Wegbereiter der Kampfkünste, Erich Rahn, starb 1973. Seine Sportschule gibt es immer noch.