© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/21 / 29. Januar 2021

Der Flaneur
Verhüllte Einheimische
Paul Leonhard

Die Sekretärin ist in Tränen aufgelöst. Als ich nach dem Grund frage, schluchzt sie nur, alles sei so furchtbar. Sie gehört zu den 27 Prozent der Frauen, die aufgrund der Corona-Restriktionen unter Depressionen leiden. Ehe ich unter die 19 Prozent der gleichfalls betroffenen Männer falle, flüchte ich aus dem Büro. Ein junger Mann mit Kinderwagen vor dem Bauch und Maske vor dem Mund schiebt seine Hand vor die sich schließende Lifttür: „Wollen Sie mit?“ Ich nicke und zwänge mich neben ihn.

Es geht abwärts. „Was das bloß noch werden soll, mit all den Einschränkungen?“ fragt der Mann. Ich brumme etwas. Dann entfährt es dem Fremden: „Die gehören alle eingesperrt, die ganzen Minister.“

Auf der Straße bummeln wenige Menschen an den geschlossenen Geschäften vorbei. Eine junge Frau auf einem Fahrrad ruft mich mit Vornamen und winkt. Ich winke automatisch zurück und sinniere, wer das war. Ein ehemaliger Kollege kommt mürrischen Blickes und bis auf die Augen verhüllten Gesichts auf mich zu und stapft vorbei. Ich erkenne ihn nur am Gang und grüße. Er reagiert spät mit dem Satz: „Ich habe Sie nicht erkannt.“

Vor einem Brunnen posieren fremdländisch aussehende Jugendliche und lachen.

Später sehe ich einen Bekannten. Ich strecke die Hand zur Seite, damit er stoppt, was er im letzten Moment auch tut und verärgert mit beschlagener Brille zu mir heraufstarrt. Dann ein Lächeln, ich sehe es an den Augenwinkeln. Er hat mich erkannt. Während wir Höflichkeitsfloskeln austauschen, schaut er sich ängstlich um: „Ich weiß gar nicht, ob wir hier miteinander sprechen dürfen.“ 

Hundert Meter weiter nehme ich fröhliches Gelächter war. Eine Gruppe fremdländisch aussehender Jugendlicher posiert vor der Brunnenfigur, die eine barbusige Amazone darstellt. Während die Einheimischen an ihnen stumm vorbeihuschen, die Köpfe bis auf die Augen verhüllt, tragen die anderen weder Mund-Nasen-Maske und die jungen Frauen nicht einmal Kopftuch, obwohl die Sätze, die sie sich zurufen, arabisch klingen. Ich schaue mich um. Wo bleibt bloß die Religions-, äh Coronapolizei?