© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Der Herausforderer
Kremlkritiker Alexej Nawalny zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt: Urbane Mittelschichten demonstrieren landesweit für seine Freilassung
Christian Rudolf / Marc Zoellner

Obwohl etwas anderes als eine Gefängnisstrafe eine Sensation gewesen wäre, war es doch ein Nervenkrieg bis zur letzten Minute. Am späten Dienstag abend ist der prominente Kremlkritiker Alexej Nawalny vom Moskauer Stadtgericht zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden. Das Gericht rechnete ihm einen vorausgegangenen Hausarrest an, so daß der 44jährige nun für zwei Jahre und acht Monate eingesperrt wird.

Während des langen Prozeßtages verteidigte sich der Oppositionspolitiker, selbst von Hause Jurist, eloquent und angriffslustig, nicht die Spur eines Zweifels ließ er daran, daß es sich in seinen Worten um ein „politisches Verfahren“ mit „fabrizierten Vorwürfen“ handele, das auf Geheiß eines einzigen Mannes betrieben werde: „Ich habe ihn tödlich beleidigt, indem ich überlebt habe!“ Die ihm zur Last gelegten Vorwürfe erschöpften sich allen Ernstes darin, an welchem Tag Nawalny sich während einer Hausarreststrafe jeweils bei den Behörden hättte melden sollen und daß er seinen Meldepflichten von Berlin aus nicht ausreichend nachgekommen sei. Nawalny: „Ich lag im Koma!“

Während der Prozeß lief, kam es rund um das Gerichtsgebäude und am Ausgang der nächstgelegenen U-Bahnstation „Platz der Verklärung (Christi)“ zu massiven Verhaftungen, sowohl von mutmaßlichen Unterstützern Nawalnys als auch Passanten. Von 370 Verhafteten berichtete der regierungskritische Blog OWD Info. Auf Twitter kursierende Bilder zeigten lange Schlangen von Festgehaltenen, die sich unfreiwillig vor den Gefängnisbussen drängelten. Noch vor der Urteilsverkündung wurden der Rote Platz und weitere Plätze abgesperrt.

Brutale Verhaftungen wie in Weißrußland

Nawalnys Anhänger sprachen ohnehin von einem Schauprozeß gegen den Politiker und Blogger und fürchteten, Nawalny solle durch erneute Verurteilung von seiner Dokumentationsarbeit zu Korruptionsfällen abgehalten werden.

Der vergangene Sonntag hatte abermals ganz im Zeichen von landesweiten Demonstrationen gestanden. Trotz teilweise strengen Frostes sowie massiver Behinderungen durch die Polizei hatten sich am letzten Tag im Januar erneut Zehntausende russische Bürger auf den Straßen versammelt, um für die Freilassung des vor zwei Wochen unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhafteten Nawalny zu demonstrieren. In über 120 Städten zählten russische Medien Protestmärsche, zu denen Nawalny aus der Untersuchungshaft aufgerufen hatte. Stellenweise präsentierten sich den anwesenden Reportern groteske Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die unter anderem mit Tränengas und Schlagstöcken die nach russischem Recht widerrechtlich verbotenen Proteste aufzulösen versuchten. In Wladiwostok wurden Demonstrationsteilnehmer vor ihrer Verhaftung von Polizisten auf das Eis gefrorener Gewässer gedrängt. In Nowosibirsk verhafteten Sicherheitskräfte Fahrer aus ihren Autos heraus, die in Unterstützung der Proteste hupend vorbeifuhren. Szenen, die die Öffentlichkeit seit bald einem halben Jahr aus Weißrußland kennt.

„Die russische Hauptstadt erinnert mehr an eine belagerte Festung als an eine Hauptstadt“, spitzte der US-Nachrichtensender CNN zu. Ganze Viertel seien von Beamten abgesperrt sowie unzählige Gefangenenwagen abgestellt worden, um in Gewahrsam genommene Protestler auf umliegende Polizeistationen zu überführen. Cafés und Restaurants hatten zu schließen; der Verkauf von Alkohol wurde in Teilen Moskaus zeitweise komplett untersagt. Rund um den Ljubjanka-Platz, den Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, welchem von der Opposition die im vergangenen August versuchte Ermordung Nawalnys mit dem Nervengift Nowitschok angelastet wird, sowie um den Kreml versperrten Barrikaden die Straßen. Im Zentrum Moskaus mußten sämtliche U-Bahn-Linien, die in die Nähe der „Matrosenruhe“ führten, dem Untersuchungsgefängnis Nummer 1, in welchem Nawalny auf seinen Prozeß wartete, ihren Dienst einstellen. Die Wohnungen von Verwandten und Beratern des Oppositionellen wurden durchsucht, ebenso die Räume seiner Stiftung zur Bekämpfung der Korruption.

Den Demonstrationszügen zur Freilassung Nawalnys folgte eine enorme Verhaftungswelle: Bis Montag nachmittag zählte der Blog OWD Info weit über 5.600 Festgenommene, davon allein gut 1.900 in Moskau. Prominentestes Opfer der Festnahmen war am Sonntag wiederholt Nawalnys Ehefrau, die Augenzeugenberichten zufolge von Polizisten abgeführt wurde, welche sich weder ausweisen noch einen Grund zur Verhaftung angeben wollten. Zwar kam Nawalnaja am Montag wieder auf freien Fuß; allerdings gegen eine Geldstrafe von umgerechnet 220 Euro.

Im Vorfeld hatte Alexej Nawalnys Team angekündigt, die Geldstrafen eines jeden auf den Demonstrationen Verhafteten übernehmen zu wollen. „Das Jahr 1937 geht in Rußland wieder los“, beklagt exemplarisch ein Demonstrationsteilnehmer auf Twitter über die anhaltenden Verhaftungen – ein Verweis auf die Große Säuberung unter Stalin. „Die Menschen protestieren gegen die Macht korrupter Beamter, die sich den gesamten Reichtum des Landes aneignen. Für uns Bürger hat diese Macht nur Keulen und Handschellen übrig.“

„Er spricht für eine Minderheit, die laut ist“

„Alexej Nawalny hat es geschafft, den liberalen Protest mit dem sozialen Protest der vom wirtschaftlichen Abstieg bedrohten urbanen Mittelschichten zu verbinden“, kommentierte der Rußland­experte Thomas Fasbender gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Daß in einer Zeit zurückgehender Reallöhne ein Projekt wie der Palast am Schwarzen Meer entstehe, beweise die Ignoranz der Eliten. „Nicht ausgeschlossen, daß in Rußland eine vorrevolutionäre Stimmung entsteht, deren Auswirkungen auf Europa völlig unabsehbar sind.“ Man könne nur hoffen, „daß der Westen jetzt nicht auch noch Öl ins Feuer gießt.“

„Im Moment entstammen die Demonstranten der urbanen Mittelschicht“, so wiederum Alexander Rahr. Es seien eher die Jungen als die Alten, eher Gebildete als Ungebildete, mehr Studenten als Unternehmer, die sich um einen Anschluß an europäische Werte bemühten, so der Rußlandkenner im Gespräch mit dieser Zeitung. „Es gibt allerdings nicht die sozialen Spannungen, von denen im Westen immer gesprochen wird. Die Menschen leben heute in Rußland besser als je zuvor“, das dürfe man nicht vergessen.

Von einer Spaltung der Gesellschaft zu sprechen sei viel zu früh. Nawalny bündele den Protest. „Aber er spricht für eine Minderheit, wenn auch eine laute.“ Das System der gegenwärtigen Macht sei „stabiler, als man im Westen denkt“. Mit der Korruption, die der Oppositionelle Nawalny unermüdlich anprangert, könne die russische Gesellschaft leben. Der Knackpunkt komme, wenn die Jungen spüren, daß sie die Verlierer sind.