© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Wenn Lebensüberdruß zur Tragödie wird
Freitod: Selbsttötung ist nichts Gutes, aber je nach Grund und Haltung läßt sich dem Akt Größe nicht immer absprechen
Eberhard Straub

Ein Held ist, wer sein Leben Großem opfert, / Wer’s für ein Nichts vergeudet ist ein Tor“. Dieses Urteil eines Argonauten in Franz Grillparzers gleichnamiger Tragödie von 1821 ist heute völlig unverständlich geworden. Denn das Leben ist mittlerweile der Güter höchstes. Es darf gar nicht mehr erwartet oder gar gefordert werden, daß es für irgend etwas eingesetzt wird – für die Freiheit des  Vaterlandes, der Kirche, einer Klasse oder für die alles umfassende Freiheit des Geistes, der weht wie und wo er will. Vielmehr muß jetzt alles Tun und Treiben immer das Ziel im Auge behalten, dem Leben zu dienen, es vor allen Gefahren zu schützen und den unvermeidlichen Tod so lange wie nur möglich hinauszuzögern.

Für Sokrates war der Tod ein Akt sittlicher Freiheit

Der weise Sokrates, dessen gefaßten Tod römische Stoiker und spätere Humanisten und Freunde der Freiheit als vorbildlich würdigten, riet freilich während seiner letzten Stunden dem Freunde Kriton, nicht das Leben als solches hoch zu achten, sondern das gute Leben, das mit dem gerechten und sittlichen einerlei ist. Ein Leben voller Sorge um Gesundheit, Karriere und Reichtum, das von der täglichen Selbsterforschung abhalte, immer vernünftiger und besser zu werden, betrachtete er als ein aufgeregtes Dasein, fern der ruhigen, inneren Freiheit, die überhaupt dem Leben erst seine Würde verleihe.Wer sich diesem höchsten Ziel annähert, wird den Tod freudig begrüßen, der endgültig hinüberleitet in Klarheit,Wahrheit und Sicherheit.

Sokrates’ Freunde wollten dem zum Tode Verurteilten die Flucht ermöglichen. Er lehnte das ab und trank gelassen den Giftbecher. Der Tod war für ihn ein Akt sittlicher Freiheit, mit der er ein letztes Mal attische Demokraten provozierte. Sie hatten ihm vorgeworfen, nichts von der Freiheit zu verstehen, ihre Werte nicht zu teilen und mit seinen verfassungswidrigen Reden die Jugend zu verderben und den inneren Frieden zu stören. Sokrates hielt sie nämlich dazu an, der öffentlichen Meinung und Parteien zu mißtrauen, um geistig selbständig werden zu können. Nicht der Freistaat mache frei, sondern der Geist und die Kräfte der Seele ermöglichten freie Bürger, ohne die bürgerliche Freiheit nur ein leerer Wahn bleibe.

Sokrates fügte sich dennoch in das seiner Ansicht nach unrechtmäßige Todesurteil aus Respekt vor den Gesetzen, die ihre Heiligkeit nicht einbüßten, nur weil leidenschaftliche Politiker sie mißbrauchten in der erklärten Absicht, einen Selbstdenker zum Schweigen zu bringen. Der Tod des Sokrates in geselliger Runde machte ihn ehrwürdig und diskreditierte die wehrhaften Demokraten in Athen. Sokrates wurde zum Helden, weil er mit seinem selbstbewußten Sterben die Bürgerschaft auf die Grenzen ihrer Macht hinwies, die sie davor bewahren sollten, in Unordnung und Willkürherrschaft  zu geraten.

Ganz in diesem Sinne opferte der jüngere Cato 46 vor Christus sein Leben im Kampf um die freiheitliche Ordnung Roms. Cato konnte während des Bürgerkriegs den Sieg Caesars und die Alleinherrschaft eines Parteiführers nicht verhindern. Mit seinem heroischen Selbstmord erinnerte er aber als letzter republikanischer Römer an die mannhafte Tugend und den Geist der Freiheit, die beide einst Rom ausgezeichnet hatten.

Im nordafrikanischen Utica – heute Tunis – nahm er sich das Leben, nicht bereit, sich Caesar zu ergeben und den Untergang der römischen Republik anzuerkennen. Er folgte dem nun schon klassischen Beispiel des Sokrates: Er badete, aß noch ein wenig, trank Wein und las dabei im „Phaidon“ des Platon die Gespräche, die Sokrates mit Freunden über das Fortleben der Seele nach dem Tode führte. Mit unerschütterlicher Seelenruhe ertrug er die schmerzhaften Folgen des ungeschickten ersten Selbstmordversuchs.

Dieser Cato blieb allerdings für spätere Geschlechter unbesiegt, weil er den Tod besiegt hatte. Bis ins 19. Jahrhundert wurde in zahllosen Dramen, Opern und Bildern an Catos Selbstopfer als Liebestod für die Freiheit des einzelnen und ganzer Völker erinnert, worüber er auch auf Erden ewiges Leben gewann.

Mit der Kunst des Sterbens vertraut machen

Der Selbstmord ist an sich nichts Gutes, aber Größe läßt sich ihm nicht immer absprechen, wie der Heilige Augustinus, ein scharfsinniger Theologe, aber auch ein römischer Patriot, zugab. Catos Tod erschien ihm allerdings verwerflich und gar nicht selbstlos, da unmittelbar vermischt mit gekränkter Eitelkeit, heftigem Stolz und unbeherrschtem Neid auf Caesar. Der Kirchenvater konnte gar nicht anders argumentieren, da er vehement den Eifer unter Christen, das Martyrium zu suchen, als überhaupt nicht gottgefällig bekämpfte.

Die Christen waren vertraut mit den alten Traditionen, das flüchtige Leben zu verachten, vor allem wenn Schmach und Schande ihm drohte. Gerade die schon von Römern als Humanisten gefeierten klassischen Griechen gingen schonungslos während ihrer Kriege mit anderen Städten um, deren Bürger nach einer Niederlage auf keine Nachsicht hoffen durften. Der Heiden sanftes Sterben ist eine Phantasie bürgerlicher Dichter.

Die Männer – auch minderjährige Söhne – wurden ermordet, die Frauen geschändet oder ein Teil der Einwohner als Sklaven verkauft. Unter solchen Voraussetzungen lag es nahe, rechtzeitig sich selber, Frauen und Kinder zu töten, um sterbend wenigstens die Ehre zu retten. Ein ehrloses Leben war keines, und ein würdeloser Tod brachte jeden um seinen guten Ruf, auch eine Stadt, die in ihre Unterwerfung einwilligte. Das Leben zu überschätzen und den Tod zu fürchten, galt als niedrige Gesinnung. Insofern wollten die Christen nicht hinter ihren heidnischen Vorfahren und stoischen Zeitgenossen zurückstehen. Es kostete einige Mühe, sie dahin zu bringen, sich auch in grausame Schicksalsschläge zu schicken.

Ganz ist das nie gelungen. Denn viele antike Beispiele todesmutiger Seelenstärke verloren nicht ihre Anziehungskraft. Mitten in der Zeit christlicher Ritter besann sich ein Dichter auf die Nibelungen und schilderte teilnahmsvoll deren Weg in den schrecklichen Untergang, damit Recht und Ordnung, vielfach verletzt, wieder hergestellt werde. Deren Todesbereitschaft unterschied sich gar nicht sonderlich von der des letzten spartanischen Königs Kleomenes, der zusammen mit treuen  Gefährten 222 vor Christus auf einem freien Platz in aller Öffentlichkeit aus dem Leben schied.

Heiden und Christen stimmten darin überein, daß im irdischen Erdenjammer das Leben ohnehin nur ein Sterben sei, das der Tod beende, mit dem sich jeder Weltkluge anfreunden solle. Ein vernünftiges Leben äußerte sich in der Todesbereitschaft. Jedem wurde daher geraten, sich mit der Kunst des Sterbens vertraut zu machen. Beim Tod kam es auf die Haltung an. Freiwillig aus dem Leben zu scheiden, konnte schon in der Antike den Verdacht erregen, vor Schwierigkeiten zu fliehen, also zu versagen. Ein Selbstmörder aus Mutlosigkeit wurde in der Regel verachtet.

Das nahm Erzherzog Rudolf in Kauf, als er am 30. Oktober 1889 zusammen mit einer exaltierten Freundin im niederösterreichischen Mayerling aus dem Leben schied. Dieser hochbegabte Intellektuelle, ständig nervös und unzufrieden, weil politisch ohne jeden Einfluß, verwickelte sich nach und nach in viele Schwierigkeiten, die zuletzt das katastrophale Scheitern unausweichlich machten. Sein Untergang war ein Skandal, ähnlich dem seines Cousins, des bayerischen Königs Ludwig II. Doch dessen dramatisches Ende im Jahr zuvor ließ sich von Dichtern noch poetisieren. Sie sahen in ihm, der in den künstlichen  Paradiesen seiner Phantasie weilte, einen  Verwandten, immer hinter sich her und auf der Jagd nach ungewöhnlichen Reizen und Stimmungen, die über die öde Gegenwart hinweghelfen mit ihrem ruhelosen Streben nach Nutzen und Profit

Ästhetischer Weltschmerz und Lebensüberdruß waren seit dem späten 18. Jahrhundert mit ganz ungewöhnlichen Lebenserwartungen verknüpft. Von der Vernunft wurde ununterbrochen geredet und von ihren Segnungen nahezu geschwärmt, wenn sie sich den einzelnen Temperamenten mit ihren Empfindungen anschmiegt und der Sinnlichkeit ihr Recht läßt und der Natur nicht im Wege steht. Der natürliche Mensch voller Gefühle, die er mit anderen im beseelten Austausch teilt, findet, von Freundschaft und Liebe umfangen, unerschöpflichen Lebensgenuß. Ihm schenkt sich das Glück. Vom Tod war nicht mehr viel die Rede. Goethe vermied möglichst  das häßliche Wort. Dabei hatte er mit den Leiden des jungen Werther unbeabsichtigt den Selbstmord manchem als Ausweg nahegelegt, der mit dem Leben nicht mehr zurechtkam. Der so verheißungsvolle Weg zum Glück überforderte viele. Die Enttäuschungen nahmen zu, wenn sich die Liebe nicht einstellte oder zerbrach.

Das launische Glück im flüchtigen Leben

Die Glückserwartungen schwanden dennoch nicht, und die Hoffnungen auf Lebensgluten spornten zu weiteren Mühen an, das Glück doch noch bei der Locke packen zu können und nicht das authentische Leben zu versäumen. Diese innere Vollbeschäftigung konnte heftigen Lebensüberdruß bewirken. Leben und Tod des Dichters Heinrich von Kleist 1811 resümiert die ganz moderne Tragödie, das launische Glück im flüchtigen Leben dauernd festhalten zu wollen. Ihm war in dieser Welt nicht zu helfen, wie er kurz vor dem Selbstmord erkannte. Verstrickt in seine inneren Dramen kam er der Welt abhanden.

Vielen geht es weiterhin nicht anders, weil sie das Leben überschätzen, das unter der Herrschaft des Todes steht. Wer seinem Leben heute ein Ende setzt, verdient gewiß Nachsicht. Aber seine Tat weist nicht über sein rein privates Unglück hinaus. Das Leben in seiner Endlichkeit ist dem Trug sehr nahe, dem Traum. Grillparzers Argonaute meinte mit dem Nichts, von dem er sprach, das Leben, das der vergeudet, der sich von dessen Vergänglichkeit und Nichtigkeit narren läßt. Das ist heutzutage freilich eine jugendgefährdende Botschaft.





Berühmte Freitode

Der Maler Vincent van Gogh (1890, erschoß sich), die Schriftsteller Heinrich von Kleist (1811, ging mit seiner an Krebs erkrankten Freundin Henriette Vogel in den Tod, indem er erst sie und dann sich erschoß), Georg Trakl (1914, Überdosis Kokain), Kurt Tucholsky (1935, Barbital), Ernst Toller (1939, erhängt), Walter Hasenclever (1940, Barbital),  Stefan Zweig (1942, Barbital), Ernest Hemingway (1961, erschoß sich), Paul Celan (1970, stürzte sich in einen Fluß), der Musiker Kurt Cobain (1994, Kopfschuß), der Schauspieler Robin Williams (2014, erhängt).