© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Populismus: Zur Deutung eines mißverstandenen Begriffs
Weil heute alles möglich ist
Walter Hollstein

Das Losungswort des 21. Jahrhunderts dürfte wohl Populismus sein. Es wird inzwischen für alles verwendet, was vom politisch vorgegebenen und also „systemtreuen“ Denken abweicht: Linksextreme, Rechtsextreme, Sektierer, Querdenker, Alternative – um gerade nur einige Beispiele zu nennen. Nach deren Kritik und Inhalten wird nicht mehr gefragt und damit auch nicht nach deren eventueller gesellschaftlicher Berechtigung. Dabei ist der Begriff des Populismus unbestimmt und ungeklärt, weit mehr eine Denunziation als eine Deutung. Selbst definitionseifrige Institutionen wie die Bundeszentrale für politische Bildung kapitulieren vor einer genauen Begriffsbestimmung.

Sinnvoller ist, sich weniger an diesem Begriff zu orientieren als an den Gründen, die den Begriff so gängig gemacht haben. In dieser Optik gibt die sozialwissenschaftliche Forschung die folgenden Ursachen an: Zerfall der traditionellen Parteienlandschaft, Epochenbruch, Globalisierung, Flüchtlingskrise oder Kluft der Einkommensverhältnisse. Dies sind jedoch Annahmen, die empirisch wenig bis gar nicht belegt sind. Letztlich erweisen sie sich als ideologische Hilfskonstruktionen. Fragt man die Menschen direkt, ergeben sich ganz andere Deutungsmuster. Der folgende Erklärungsversuch beruht auf mehr als 1.700 Gesprächen und Interviews. Daraus ergibt sich – zunächst als grobes Ergebnis formuliert –, daß die Menschen an der kontinuierlichen Auflösung ihres selbstverständlichen Lebensrahmens leiden. Das ist als sozialwissenschaftliches Ergebnis natürlich weniger sensationell als „Flüchtlingskrise“ oder „Globalisierungsangst“.

Gesellschaft hat ein ökonomisches Fundament, eine organisatorische Struktur, Institutionen, ein Werte- und ein Normensystem; so entstehen auch Gewohnheiten, von denen Arnold Gehlen schreibt, daß sie das „unsichere Wesen Mensch“ erst absichern. Das Ergebnis sind Kohärenz und Zusammenhalt, die dem einzelnen Individuum ebenso sehr Stabilität verleihen wie der Gesellschaft als ganzer.

In den letzten fünf Jahrzehnten haben sich diese Wirklichkeiten in einem dramatischen Maße verändert. Frühere Epochen waren dadurch charakterisiert, daß sie klare Wert- und Normvorstellungen besaßen und daß über deren Einhaltung gewacht wurde. Aktuell leben wir in der Epoche des postmodernen Pluralismus, das heißt: Heute ist alles möglich. Immer mehr Grenzen fallen; kaum gibt es sie noch. Zwischen den Kontinenten, den Supermächten, den politischen Blöcken von einst, den Nationen und Rassen brechen die Gitter und eisernen Vorhänge ein, auch zwischen den Geschlechtern, zwischen Frauen und Männern.

Gab es früher Fixpunkte, an denen wir erkennen konnten, was stabil blieb und was nicht, erleben wir heute eine rasende Veränderung, die unsere einst stabilen Werte und Normen obsolet werden läßt. Alle Maßstäbe scheinen sich aufzulösen. 

Ideologisch wird das noch durch den dekonstruktivistischen Eifer intellektueller Eliten gefördert. Das schafft nachweislich Verhaltensunsicherheit, Ratlosigkeit, letztendlich Gewalt. Und Anomie. Es ist zudem überaus anstrengend: Wenn keine vorgegebenen Normen und Regeln mehr existieren, die das soziale Leben a priori ordnen, bedarf es des ständigen Aushandelns im Gespräch, um den Alltag der Betroffenen aufrechtzuerhalten. Nichts ist mehr selbstverständlich.

Der britische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier notiert, daß „eine Ideologie des einzelnen“ um sich greift, „die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen und des Gemeinwohls verabschiedet“. Zu den unmittelbaren Folgen gehört, daß der persönliche Lebensstil zum Inhalt der Politik erklärt wurde und an Stelle sozialer Probleme die individualistische oder gar therapeutische Suche nach dem eigenen Wohlergehen prioritär gesetzt wurde. Dem wurde die Bezeichnung Identitätspolitik gegeben. Die Folge ist, daß kollektive Fragen verblaßt sind.

In ihrem Deutschland-Report konstatiert die Soziologin Jutta Allmendiger eine große Unsicherheit; gesellschaftliche Umbrüche würden allenthalben erwartet. „Statt Kontinuität erleben die Menschen tagtäglich Wandel.“ Darüber hinaus gibt es die ökologische Verunsicherung. Der Planet befinde sich in einem „desaströsen Zustand“, stellte das Plenum der Weltnaturschutzkonferenz 2019 fest. Auch die demographischen Prognosen ängstigen. Schon seit längerem sind wir zu viele auf der Welt. Auch ökonomisch sind die goldenen Jahre vorbei.

Gesellschaftlich diagnostiziert der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman „flüchtige Zeiten“. Sein deutscher Kollege Hartmut Rosa verweist darauf, daß sich heute das „objektive Geschehen“ viel rascher vollziehe, als Menschen es im eigenen Handeln und Erleben reaktiv verarbeiten können. Wir seien heillos überfordert. Tagtäglich. Die sukzessive Erosion langfristigen Denkens und Handelns bewirkt, daß „das Leben jedes einzelnen zu einer Reihe kurzfristiger Projekte und Episoden aneinandergefügt wird“ – so Baumans Analyse.

Der interaktive Bezugsrahmen im Alltäglichen verstärkt all das. Die traditionellen Bindungen wie Nachbarschaft, das Kollegentreffen aus dem Betrieb, die Stammkneipe, die Bank vor dem Quartierskiosk verschwinden mehr und mehr. Während es früher Fixpunkte gab, an denen wir erkennen konnten, was stabil blieb und was nicht, erleben wir heute eine rasende Veränderung, die unsere einst stabilen Werte und Normen obsolet werden läßt. In allen Bereichen von Gesellschaft scheinen die gültigen Maßstäbe sich aufzulösen. Die gesellschaftlichen Institutionen wie Nachbarschaft, Gemeinschaft, Kirche, Nation, Heimat oder Staat halten uns nicht mehr wie früher. Im Gegenteil.

Es ist ein anthropologisches Grundgesetz: Was im Leben selbstverständlich ist, das gibt Kontinuität; Kontinuität gibt Sicherheit, und Sicherheit garantiert Verläßlichkeit. Leben darf nicht jeden Tag wieder in Frage gestellt werden. Es ist einfach da. 

Die nachindustrielle Gesellschaft ist geprägt von Entwicklungen, die soziologische Begriffe umreißen, welche seit längerem zu Schlagwörtern geworden sind: Mobilität, Flexibilisierung, Individualisierung und Globalisierung. Sie alle verheißen Unruhe, Veränderung, Unsicherheit, Unordnung.

Diese Wirklichkeit ist so komplex, daß wir Mechanismen benötigen, um sie für uns handhabbar zu machen. Der Soziologe Niklas Luhmann hat das die „Reduktion der sozialen Komplexität“ genannt; Vertrauen ist für ihn ein solcher Reduktionsmechanismus. Schon lange zuvor hatte Arnold Gehlen das „Entlastungsgesetz“ formuliert. Für Gehlen sind es vor allem unsere Gewohnheiten, die entlastend wirken. Habitualisiertes Verhalten stabilisiert die Menschen und macht sie auf Dauer aktionsfähig. Menschen brauchen Traditionen, aus denen sie das Gegenwärtige speisen, aber auch verstehen können. Es ist ein anthropologisches Grundgesetz: Was im Leben selbstverständlich ist, das gibt Kontinuität; Kontinuität gibt Sicherheit, und Sicherheit garantiert Verläßlichkeit. Leben darf nicht jeden Tag wieder in Frage gestellt werden. Es ist einfach da, und es ist tragfähig.

Doch dieses Selbstverständliche ist mittlerweile nicht mehr selbstverständlich. Der Dekonstruktivismus hat seit einigen Jahren Hochkonjunktur; das bedeutet, daß Gewohntes und Vertrautes einem permanenten Auflösungsdiskurs ausgesetzt sind. Und nicht nur das: Sie werden häufig auch noch als sexistisch, rassistisch, traditionalistisch oder schlicht unmodern denunziert. Die sozio-politischen Folgen werden dabei nicht bedacht: daß sich dergestalt der Kitt löst, der das Gesellschaftliche zusammenhält. Was so als Orientierungsverlust erlebt wird, wird überdies als Kontrollverlust wahrgenommen. Das Gewohnte, Vertraute und Gesicherte entgleitet einem immer mehr.

Es entsteht ein Vakuum. Mit Leere läßt sich auf Dauer aber nicht leben. Sie muß wieder gefüllt werden, um sich überhaupt eine eigene Zukunft vorstellen zu können. Wenn die Orientierungs- und Anpassungsfähigkeit des einzelnen an Grenzen kommt, droht auch das gesellschaftliche Ganze zu kippen. Das kann unter heutigen Bedingungen ganz rasch geschehen, wie zum Beispiel die „Gelbwesten“ in Frankreich gezeigt haben oder – im kleineren Maße – der amerikanische Sturm auf das Kapitol.






Dr. Walter Hollstein, Jahrgang 1939, ist Professor für politische Soziologie i. R., Gutachter des Europarates für soziale Fragen und Träger des Deutschen Sachbuchpreises. Von ihm erschien zuletzt der Essayband „Das Gären im Volksbauch“ (Verlag NZZ Libro, Basel 2020).

Foto: Mobilität, Flexibilisierung, Individualisierung und Globalisierung: Das alles verheißt Unruhe, Unsicherheit, Unordnung und bildet den Boden für das Phänomen Populismus