© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/21 / 05. Februar 2021

Die Angst vor den jungen Panzerknackern
Daniel Niemetz über Pläne, im Herbst 1989 die NVA gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen
Paul Leonhard

Vier Bataillone der Nationalen Volksarmee und sieben Kampfgruppenhundertschaften sollen am 4. Oktober 1989 die „Schlacht“ um den Dresdner Hauptbahnhof beenden. Angefordert hat sie Hans Modrow, Chef der SED-Bezirksleitung Dresden, bei DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler. Daß er damit gegen die Verfassung des Arbeiter- und Bauernstaates von 1974 verstößt, schert Modrow wenig, geht es doch darum, einen neuen „17. Juni zu verhindern“. An diesem Abend stehen 20.000 Werktätige vor dem Bahnhof, von denen etwa ein Viertel versucht, diesen zu besetzen, um die aus Prag erwarteten Sonderzüge mit Ausreisewilligen zu entern. Letztlich vergeblich.

Und doch ist diese Nacht wichtig für die kommenden Ereignisse. Die SED hatte nicht nur erstmals einen Wasserwerfer gegen die Bevölkerung eingesetzt, sondern auch die Armee. Und das drei Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR, auf dem vor der Welt eindrucksvoll die Einheit von Volk und Partei zelebriert werden sollte. Die Ereignisse in Dresden und die friedlichen Proteste in Leipzig machen den Einheitssozialisten deutlich, wie brüchig ihre Macht ist, daß jederzeit jene Millionen Deutschen aufbegehren könnten, die sie in der von den Sowjets beherrschten Besatzungszone eingesperrt haben, um nach zwölf Jahren NS-Diktatur erneut ein sozialistisches Experiment zu wagen.

Die SED sinniert über Einsatz bewaffneter Kräfte

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der allein durch sowjetische Panzer niedergeschlagen werden konnte, ist das Trauma, das 36 Jahre lang das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung bestimmte: Die einen wissen, daß jeder Aufstand sinnlos war, so lange Moskau das Regime in Ost-Berlin stützte, und den Regierenden ist klar, daß sie ohne sowjetische Unterstützung auf verlorenem Posten stehen.

Seit 1953 hat die SED einen gewaltigen Sicherheitsapparat aufgebaut, der nicht nur aus dem permanent wachsenden Ministerium für Staatssicherheit besteht, sondern auch aus 187.000 in ständiger Gefechtsbereitschaft stehenden Volksarmisten, aus 200.000 Mann Kampfgruppen der Arbeiterklasse, 67.000 Grenzschützern, 60.000 kasernierten Bereitschaftspolizisten sowie paramilitärischen Einheiten wie der Gesellschaft für Sport und Technik sowie der Zivilverteidigung.

Nahezu die gesamte Bevölkerung der DDR ist militärisch ausgebildet. Diese Militarisierung hat aber auch ihre Kehrseite: Als Staats- und SED-Chef Erich Honecker anläßlich der Leipziger Montagsdemonstration am 16. Oktober 1989 „als Kraftprobe“ ein Panzerregiment durch die Messestadt fahren lassen will, bringt ihn der Hinweis, daß die DDR-Jugend wisse, wie Panzer in einer Stadt auszuschalten seien, von dieser irrwitzigen Idee ab. Brennende Kampfpanzer der „Volksarmee“ , aber auch Fernsehbilder von knüppelnder Polizei auf friedlichen Demonstrationen passen nicht ins Selbstbildnis Honeckers, der nach seinem Empfang mit militärischen Ehren in Bonn auch die Anerkennung seines Staates durch die Bundesrepublik in greifbare Nähe gerückt sieht.

Deswegen soll die Staatssicherheit bereits im Vorfeld die Massenproteste verhindern. Als ihr das nicht gelingt, werden Bereitschaftspolizei mit Knüppeln und Wasserwerfern sowie Hundertschaften der NVA und der Betriebskampfgruppen gegen das Volk geschickt. Verfassungswidrig sind schon die 1988 vom Innenministerium erarbeiteten „Ausbildungsmaßnahmen zum Einsatz im Inneren“. Zu diesen gehören das „Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen“, die „Einkreisung und Abdrängung“ größerer Menschenmengen sowie „Rechtsverletzer zu lokalisieren, herauszulösen und festzunehmen“.

Immer wieder sinniert die SED-Führung über den Einsatz ihrer bewaffneten Kräfte. Welche konkreten Pläne es gab und wieviel davon umgesetzt wurde, zeichnet Daniel Niemetz in seinem Buch „Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990“ nach. Er analysiert dabei Einsatzbereitschaft, Ausbildungsstand und Zuverlässigkeit und liefert Einblicke in Stimmungen und Meinungen jener, die geschworen hatten, den „Arbeiter- und Bauern-Staat“ mit der Waffe zu verteidigen. 

Nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 spielt das Politibüro mit dem Gedanken, mit Hilfe einer NVA-Division die Grenze wieder mit Gewalt zu schließen, was aber „am Widerstand moderater Kräfte in der Generalität“ scheitert, wie Niemetz schreibt. Dafür, daß letztlich kein einziger Angehöriger der bewaffneten Kräfte putscht, um den Staat zu verteidigen, hat Niemetz eine einfache Erklärung: Erst lieferten die absolut gewaltfreien Proteste der unter internationaler Beobachtung stehenden SED keinen Anlaß für eine Eskalation, dann verlief die Revolution „nach den damals geltenden politischen Grundlagen völlig legal“, einschließlich der Entfernung des Führungsanspruchs der SED aus der Verfassung, bis zu freien Wahlen.

Daniel Niemetz: Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990. Ch. Links Verlag, Berlin 2020, 264 Seiten, 35 Euro