© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Liberté statt Lockdown
Regel-Wirrwarr: In Frankreich und der Schweiz haben viele Geschäfte offen / Wer in der Nähe wohnt, kauft dort ein — ganz ohne Kontrolle
Hinrich Rohbohm

Es ist ein Regelwirrwarr, den kaum noch ein Bürger überblickt. Einreiseverbote. Quarantäne-Bestimmungen. Einreise nur mit negativem Corona-Test. Zeitlich begrenzte Einreisen. Geschäfte, die in einem Land offen sind, im anderen, nur wenige Kilometer entfernt, aber geschlossen bleiben müssen. An den deutschen Grenzen herrscht selbst unter den Einheimischen tiefe Verunsicherung darüber, was nun erlaubt ist und was nicht.

„Ob man noch in die Schweiz einreisen darf oder nicht, kann ich gar nicht mehr sagen, da gibt es inzwischen so viele Erlasse, ich steige da nicht mehr durch“, beklagt sich im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT etwa ein Gastronom aus dem Landkreis Lörrach, der sich direkt im Dreiländereck zu Frankreich und der Schweiz befindet. „Ich glaube, da müssen Sie erst in Quarantäne, und wenn Sie wieder zurückwollen auch“, ist sich die Rezeptionistin im Hotel ebenfalls unsicher. Selbst bei Bahnangestellten herrscht Ratlosigkeit. „Also unsere Züge fahren noch in die Schweiz. Aber inwieweit sie einreisen dürfen, kann ich nicht sagen.“ 

Ist Deutschland ein Risikoland oder nicht? 

Berufspendler aus der Region geben dagegen Entwarnung: „Ja, das ist alles nach wie vor kein Problem“ , heißt es auf unsere Nachfrage. Aber: „Nur wenn Sie in der Schweiz arbeiten. Keine Touristen.“ Selbst von den Zollbeamten an der Grenze gibt es keine zufriedenstellende Antwort. „Es kommt darauf an, das kann individuell sehr unterschiedlich geregelt sein.“ Aha. „Wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie sich bei den Schweizer Behörden oder dem Auswärtigen Amt erkundigen.“

Ja, wir wollen es genauer wissen, erkundigen uns beim Auswärtigen Amt. Dort heißt es: „Deutsche Staatsangehörige können derzeit grundsätzlich uneingeschränkt in die Schweiz einreisen.“ Na also. Ganz einfach. Oder doch nicht? 

Denn: Sie „fallen bei Einreise aus Risikoländern jedoch unter die Quarantänepflicht.“ Womit sich zunächst einmal die Frage stellt: Ist Deutschland nun für die Schweiz ein Risikoland oder nicht? Wer darüber genaue Auskunft erhalten will, muß sich an das Schweizer Bundesamt für Gesundheit wenden. Und dort heißt es nun wiederum: „Abhängig von der Art Ihrer Reise kann es sein, daß Sie ein Einreiseformular ausfüllen, einen negativen Test vorweisen und/oder in Quarantäne gehen müssen.“

Eine Aussage, die uns nicht wirklich schlauer macht. Jedenfalls: Das Einreiseformular müssen „fast alle Personen, die in die Schweiz einreisen“, ausfüllen. Ausgenommen: „Personen im regionalen Grenzverkehr“, wie man schließlich auf der Internetseite des elektronischen Einreiseformulars erfährt. Womit sich die nächste Frage aufdrängt: Wer zählt zum regionalen Grenzverkehr?

„Sie müssen das Formular nicht ausfüllen, wenn Sie aus einem Gebiet an der Grenze zur Schweiz einreisen.“ Na bitte. Also doch alles gut? Jedoch: „Diese Ausnahme gilt nur, wenn Sie nicht mit dem Flugzeug einreisen.“ Womit sich wieder neue Fragen ergeben: Was genau zählt als „ Gebiet an der Grenze“ und was gilt für jene, die mit dem Flugzeug einreisen?

Bei letzterem ist vor dem Abflug ein negativer Corona-Test vorzuweisen. So weit, so klar. Zumindest in diesem Punkt. Aber: „Wenn Sie sich innerhalb der letzten 10 Tage vor der Einreise in die Schweiz in einem Land mit erhöhtem Ansteckungsrisiko aufgehalten haben“, ist ebenfalls ein negativer Test erforderlich. Womit der Einreisende nun zunächst herausfinden muß, ob er aus einem solchen Land stammt, sich dort vor kurzem aufgehalten hat und welche Länder damit aktuell überhaupt gemeint sind. Letzteres ändert sich täglich. 

Kommt der Einreisende nun etwa aus Thüringen oder Sachsen oder hat sich dort noch vor kurzem aufgehalten, muß er also auch bei der Einreise ohne Flugzeug einen Negativ-Test vorweisen. Und nicht nur das: „Für Reisende aus Risikogebieten gilt grundsätzlich eine 10tägige Quarantänepflicht“, warnt das Auswärtige Amt. Und dann wäre da noch die Wiedereinreise nach Deutschland zu klären: Denn auch da gibt es ähnliche Quarantäne-Vorschriften.

Nur wenige halten sich an die Maskenpflicht 

Doch es existieren Ausnahmen. Etwa „wenn Sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit grenzüberschreitend Güter oder Personen befördern und lediglich zur Durchreise in die Schweiz einreisen“ und sich „maximal 24 Stunden in der Schweiz aufhalten.“ Was aber wiederum nicht für Leute aus einem Land mit erhöhtem Ansteckungsrisiko gilt. Alles klar? Wer kontrolliert einen solchen Regelungsdschungel? Und: Wie konkret können und werden diese Maßnahmen in der Praxis überhaupt durchgesetzt?

Wir machen den Test, fahren mit dem ICE von Freiburg im Breisgau nach Basel in die Schweiz. 45 Minuten dauert die Fahrt. Zählt das noch als „Gebiet an der Grenze?“ Im Zug keine Grenzkontrolleure, keine Polizei. Auch keine Durchsage der Bahn auf etwaige Kontrollen. Wer als Tourist von Hamburg bis Basel reist, hätte also keine Probleme. Wir passieren die Grenze. Ankunft in Basel, Badischer Bahnhof. Wir steigen aus. Niemand kontrolliert, niemand fragt. Gang durch das Bahnhofsgebäude, vorbei am Zoll, niemand da, keine Kontrollen. Einstieg in die Buslinie 30 Richtung Baseler Innenstadt. Kein Problem. Zufall?

Rückfahrt. Jetzt vom Baseler Hauptbahnhof. Auch hier keine Kontrollen, keine Befragung. Was ist das Regelungskonvolut wert, wenn es nicht umgesetzt wird? Die Alternative wären permanente Grenzkontrollen oder Grenzschließungen. Die aber will Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht. Sie wären ein Eingeständnis, daß entgegen ihren Aussagen Kontrollen und Schließungen wirksamen Schutz in Krisenzeiten bieten könnten.

Weiterfahrt nach Weil am Rhein. Dreiländereck. Die Grenzen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz laufen hier zusammen. Gang über die Dreiländerbrücke, hinüber in die 7.000 Einwohner zählende Gemeinde Hüningen im Elsaß. Ein Hochinzidenzgebiet mit Ausgangssperre ab 18 Uhr. Kontrollen? Keine. Nur ein französischer Polizeiwagen steht verlassen am linken Rheinufer. Dutzende Menschen passieren die Brücke in beide Richtungen. 

Auf der Brücke gilt Maskenpflicht. Nur wenige halten sich daran. Angekommen im Ort herrscht reges Treiben. Kinder spielen. Erwachsene sitzen auf Bänken, unterhalten sich. Und: Viele Geschäfte sind geöffnet. Etwa der Friseur, der sich über rege Kundschaft aus dem Nachbarland freut. „Unser Terminkalender ist voll“, beschreibt er den plötzlichen Ansturm auf seinen Laden. Auch das Blumengeschäft und die Reinigung im Ort haben geöffnet. In der Schweiz sieht es ähnlich aus. Massageläden sind offen, die Friseurgeschäfte ebenfalls. Haarschnitt? Kein Problem. Ein Kaffee wird dazu gereicht.

„Hoffentlich wachen sie in Deutschland mal auf“

„Wir haben hier schon gut zu tun. Aber es ist wirklich traurig, was sich bei euch in Deutschland abspielt“, sagt die Angestellte, während sie drauflosschnippelt. Ihre Freundin, ebenfalls Friseurangestellte, lebe in Lörrach auf deutscher Seite, nur wenige Kilometer von Basel entfernt. „Die erzählt mir von ihrer Chefin, die nicht mehr weiß, ob sie ihren Laden in Zukunft noch weiterführen kann oder pleite geht.“ Und dann müßte sie auch noch mit ansehen, wie die eigene Kundschaft über die Grenze fährt und sich dort die Haare schneiden lasse. „Denen stehen die Tränen in den Augen. Hoffentlich wachen sie in Deutschland da mal auf“, sagt sie uneigennützig.

Anwohner in Weil am Rhein berichten über ähnliche Tragödien. „Das ist doch alles ein Witz hier. Die Leute gehen rüber auf die andere Seite und nehmen dort die Dienstleistungen in Anspruch, die bei uns nicht mal einen Kilometer entfernt untersagt sind“, läßt ein Rentner seinem Frust freien Lauf. „Bei vielen Gewerbetreibenden staut sich langsam eine ziemliche Wut auf“, pflichtet ihm seine Frau bei.

„Wo ist denn da die europäische Geschlossenheit, von der unsere Politiker immer sprechen? Hätte man sich da nicht besser abstimmen können?“, meint auch die junge Angestellte einer Apotheke. Ihre Branche sei zwar nicht betroffen. „Aber viele Geschäfte hier bluten aus, weil Europa an diesem Punkt komplett versagt.“ Angesichts des ineffektiven Regelungswirrwarrs an den Grenzen möchte man ihr kaum widersprechen.