© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Der Mythos frißt seine Kinder
Geschichtsdeutung: Wie die antifaschistische Erzählung einen autokratischen Weltanschauungsstaat formt
Konstantin Fechter

Wenig ist bekannt über Kronos, den obersten Titanen der griechischen Mythologie. Er muß ursprünglich für eine gerechte Sache eingestanden haben, führte er doch den Aufstand gegen seinen Vater, den despotischen Himmelsgott Uranos, an. Aber mit der Zeit wurde er zu dem, was er einst bekämpft hatte. In ihm erwuchs argwöhnische Furcht vor allem, was nach ihm die Welt betrat. Und Angst steigerte sich in Wahn. Kronos begann seine Kinder zu verspeisen, um sie als potentielle Nachfolger auszuschalten. Nur Zeus wurde von seiner liebenden Mutter Rhea versteckt und daher von Kronos übersehen. Die mörderische Mißgunst des Vaters trieb den Sohn jedoch erst recht zur Auflehnung. Letztendlich triumphierte Zeus über den Titanen, beendete dessen Tyrannei und nahm seinen Platz als oberster Götterherrscher ein. Kronos erschuf so auf zweifache Weise sein eigenes Verhängnis.

Das Verhalten des Titanen läßt sich als Allegorie auf den Mythos selbst verstehen. Er muß seine eigenen Kinder fressen, da alles Nachfolgende einen Angriff auf die gültige Überlieferung darstellt. Mythen erzählen vom Anbeginn der Zeit, der Erschaffung der Welt und den Schlachten der ersten Menschen. Aus diesem Erzählstoff der Superlative generieren sie ihre Überzeugungskraft. Neben ihrer Sakralisierungsfunktion besitzen Mythen jedoch eine profane Kehrseite: sie konstituieren Machtverhältnisse. Ihre Erzählung ist somit nicht nur Bestandteil der Theologie, sondern auch der Sphäre des Politischen. Babylon, Athen, Rom, sie alle bezogen ihre Herrschaftsansprüche aus einer Zeit vor der Zeit. 

Ein Mythos ist weder anfechtbar noch widerlegbar

Den Mythen entspringt das mythische Bewußtsein. Dieses prägt eine bestimmte Art des Sehens aus, ein intuitives Verständnis, das seine eigene Referenz darstellt. Weil der Mythos jenseits der Vernunft steht, ist er weder anfechtbar noch widerlegbar. Er bezieht seine Überzeugungskraft aus dem Unerklärbaren. Wahr oder falsch, gut oder schlecht sind keine gültigen Parameter für ihn. Er kann nur angenommen oder verworfen werden.

Die Kraft der Mythen gilt in aufgeklärten Gesellschaften als erloschen. Der selbstermächtigte Mensch wähnt sich weit entfernt von dieser kosmogonischen Folklore. Das täuscht, denn jene ist wie geschaffen für das Zeitalter des digitalen Äthers, wo Nichtwissen und Nichtörtlichkeit kumulieren. Je abgeklärter der heutige Betrachter erscheint, desto anfälliger wird er für die großen WErzählungen der Moderne, die ihm in der atomisierten Weltzivilisation einen Platz weisen. Ihre größte Stärke liegt darin, nicht mehr als solche erkannt zu werden. Doch Homer wurde nur durch Hollywood ersetzt. 

Es ist dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss zuzustimmen, daß nichts „dem mythischen Denken mehr ähnelt als die Ideologie“. Dennoch gibt es einen grundlegenden Unterschied: Ideologie verharrt in ihrem Zustand der Wirklichkeitsmanipulation und ist als solche stets erkennbar. Der Mythos hingegen ist unabhängiges Bewußtsein, das selbstständig zwischen der subjektiven Wahrnehmung und der Realität vermittelt. Der Propagandist verkörpert ein aggressives Vorgehen, das permanent um Verinnerlichung seiner weltanschaulichen Überzeugungen kämpfen muß. Der Mythengläubige hingegen ordnet sich einer höheren Macht unter. Durch die mythische Vereinnahmung von politischen Ereignissen und Themen erfolgt der dauerhafte Zugriff auf das kulturelle Gedächtnis und Kollektivbewußtsein einer Gesellschaft. Je wirkmächtiger eine Großerzählung, desto weniger Kritik regt sich gegen ihre Tabus.

Gesellschaftsformen, die sich selbst als alternativlos verstehen, neigen zur Mythisierung ihrer eigenen Ordnung. Trotz ihres Anspruchs auf ein aufgeklärtes Weltbild ist diese Tendenz auch bei der modernen Fortschrittsdemokratie erkennbar. Indem sie sich als logisch zwingende Entwicklung der Menschheitsgeschichte und zugleich deren krönenden Abschluß begreift, offenbart dies ein eschatologisches Selbstverständnis. Der globalisierte Liberalismus des 21. Jahrhunderts reagiert dadurch auf eine sich immer deutlicher offenbarende Legitimationskrise. Je universeller der Geltungsbereich der eigenen Überzeugung proklamiert wird, desto stärker wächst die Unsicherheit über die systemimmanenten Bruchstellen des Pluralismus. Das angespannter werdende Verhältnis der unterschiedlichen sozialen, religiösen und ethnischen Splittergruppen zeigt die Grenzen der zivilgesellschaftlichen Inklusionsfähigkeit. Die halbgaren Konzepte zur Überwindung des Partikularismus scheitern regelmäßig, da die hierfür notwendigen Prämissen in Form von staatsbürgerlicher Solidarität und kultureller Verbundenheit nicht mehr gegeben sind.

Für die Einheit der Vielfalt bedarf es somit konstituierender Elemente jenseits des utilitaristischen Gesellschaftsvertrages. In ihrer argumentativen Not wird die demokratische Öffentlichkeit dabei anfällig für den Sirenengesang einer obsessiven Geschichtsdeutung, die ursprünglich selbst von erklärten Feinden dieser Staatsform stammt: dem Antifaschismus. Dieses Sammelsurium weltanschaulicher Bruchstücke hat seinen klassenkämpferischen Unterton weitestgehend eingebüßt und inszeniert sich längst als einzig legitimer Ausdruck des demokratischen Überlebenswillens. Das brachte ihm Sympathien bis ins gemäßigte Bürgertum, welches die kaum verhohlene Revolutionsrhetorik und Gewaltlitaneien seiner Anhänger stillschweigend ausblendet. Der Antifaschismus bleibt jedoch Werkzeug einer radikalen Gesellschaftstransformation, an deren Ende kein freier, sondern ein hochideologisierter Gärtnerstaat steht.

Als Schlüsselbegriff dient dabei der Widerstand gegen jede Ordnungsvorstellung, welcher seiner Auffassung von Menschheitsgestaltung entgegensteht. Sein sinnstiftender Befreiungskampf versteht sich als Teil einer dualistischen Auseinandersetzung um das Wohl der Menschheit. Jenes wird unterminiert durch eine subversive Bedrohung, ein dunkel anhaltendes Echo der Geschichte. Dessen Schallwellen sind eine anachronistische Verzerrung der nationalsozialistischen Schrecken, die beliebig in Vorgänge anderer Epochen, aber auch in die heutige Zeit projiziert werden. Daraus formt sich eine schemenhafte Essenz des Bösen, die Verkörperung im Topos des „Faschisten“ erfährt, dessen rassistisches Gift die Weltgeschichte durchzieht.

Durch dessen überzeitliche Präsenz ermöglicht sich ein Austausch von historischer und gegenwärtiger Substanz. Die Singularität von Auschwitz als geschichtlichem Ereignis weicht seiner Archetypisierung als ursprünglichste Grausamkeit. Indem die Errichtung der Vernichtungslager als jederzeit wiederholbares Phänomen aufgefaßt wird, löst sich dieses aus seiner faktischen Raum- und Zeitbindung und entwickelt eine transzendente Permanenz. Dieser Transfer widerspricht einem rationalen Geschichtsverständnis, im überzeitlichen Denken des politischen Mythos ist er jedoch möglich und führt zu einer anhaltenden Aktualität der Gestalt des „Faschisten“ und des „Verfolgten“ in Vergangenheit wie Gegenwart. Das frühere Versagen bei der Rettung der Opfer des Faschismus erfordert einen heutigen „Antifaschismus“, dessen repressive Vorgehensweise zur Härte gegen jeden zwingt, der im Verdacht steht, an einer Wiederbeschwörung dieser dunklen Kräfte beteiligt zu sein.

Totalitäre Wächtergesinnung

Die Bundesrepublik erweist sich im Zuge der Wiedervereinigung als besonders anfällig für die antifaschistische Obsession. Ihre offiziöse Sprache stellt mit Floskeln über bedingungslose Buntheit nur vordergründig einen Politkitsch dar und offenbart sich bei näherer Betrachtung als ein zutiefst mythisches Zeichensystem, das mit Beschwörungsformeln und Bannsprüchen arbeitet. 

Die politisch-moralische Kernschmelze, welche im Zuge der vollständigen Kriegsniederlage und Offenlegung der nationalsozialistischen Verbrechen in der Mentalität der Deutschen entstand, war so weitreichend, daß nach ihr kein angemessener Zugang zu einem staatsbürgerlichen Ethos mehr gefunden werden konnte. Stattdessen ergab sich schrittweise die Flucht in die erlösende Kraft einer profanen Heilslehre. Je schneller die Deutschen sich ihrer früheren nationalen Mythen entledigten, je mehr sie Arminius, Nibelungentreue und Preußen vergaßen, desto tiefer ging ihr Bewußtsein in der antifaschistischen Erzählung auf. Deren apokalyptische Rhetorik erfordert die ständige Bereitschaft, den angeblich lauernden Feind im Inneren aufzuspüren. Denn geschickt erhebt der Antifaschismus eine totalitäre Wächtergesinnung zur demokratischen Grundtugend und denunziert damit jeden Kritiker als Diktaturbefürworter. Diesen Anfängen zu wehren, wurde zum niemals endenden Mantra und vertiefte über die Jahrzehnte die gesellschaftliche Spaltung in unversöhnliche Gräben, was unweigerlich ein neues Schisma erzeugte. 

Zugleich liegt es im Wesen kompromißloser Überzeugungen, sich selbst zu radikalisieren. Es bildet sich eine Verdächtigungsgesellschaft im mentalen Belagerungszustand. Wie Kronos beginnt der antifaschistische Mythos seine Kinder zu fressen. Indem die permanente Furcht vor der Rückkehr einer Schreckensherrschaft dominiert, öffnet ihr dies in anderer Form die Tür. So wandelt sich die ursprünglich liberale Gesellschaftsverfassung in ihr Gegenteil: die Ideokratie, den Weltschauungsstaat unter einer alles beherrschenden Leitidee.

Kritik am Regierungsstil reduziert sich auf Beifallsbekundungen, da tiefergehender Widerspruch sofort als Aufforderung zum Systemumsturz aufgefaßt wird. Objektiver Diskurs wird aufgegeben zugunsten ominöser Deutungsbevollmächtigter, deren Urteile über vermeintliche Verfassungsuntreue als Feindmarkierungen dienen. Ächtung erfahren selbst bekennende „Antifaschisten“, sobald ihre Äußerungen nicht mehr vollständig auf Linie gelten. Im Namen einer vermeintlich gerechten Sache formieren sich Inquisitoren und Bluthunde, die ihre Jagd nach den Verfemten eröffnen. Mit dem Antirassismus, jener zwanghaften Fixierung auf ethnisch bedingte Benachteiligungen, kehrt ein neuer Rassismus zurück, der ökonomische, soziale und kulturelle Ursachen von Ungleichheit ignoriert und sie zu einer alleinigen Frage der Hautfarbe erklärt. Geschichtsdeutung degeneriert zum Bildersturm und zur metapolitischen Waffe, die der Schleifung ursprünglich neutraler Institutionen dient.

Es entwickelt sich ein vorauseilender Gehorsam

Aus Furcht vor sozialer Ausgrenzung, welche die ideokratischen Sittenwächter für unerwünschte und dadurch als gefährlich geltende Meinungen verhängen, entwickelt sich ein vorauseilender Gehorsam, der zur Überwachung und Meldung von Mitbürgern führt. Der Antifaschismus erzeugt dadurch jene deformierte Untertanenmentalität, die er zu bekämpfen vorgibt.

Im eigentlich intakten Rechtsstaat bildet sich paradoxerweise das gesellschaftliche Klima der Autokratie heraus. Furcht, Mißtrauen und Schweigen prägen das Miteinander in der ehemaligen Bürgerschaft. Dies trägt erheblich zur Erosion der freien Gesellschaftsordnung bei, und die Demokratie beginnt den Glauben an sich selbst zu verlieren.

Das Volk als Souverän gerät zunehmend unter Verdacht, den Herausforderungen einer hochkomplexen Welt nicht mehr gewachsen zu sein. Klimawandel, ungebändigte Migrationsströme und die Imagination eines kurz vor der Machtergreifung stehenden Neofaschismus lassen immer mehr Bürger mit ihrer politischen Selbstentmündigung liebäugeln. Die Verlockung ist groß, die Verantwortung einem technokratischen Komitee zu überlassen, welches künftig Freund und Feind anhand ideologischer Kriterien unterscheidet. 

Doch der Bürger wird weiter für sich selbst denken müssen, oder man wird ihm künftig vorschreiben, wie er es zu tun hat. Das Schicksal des Zauberlehrlings aus Goethes bekannter Ballade warnt vor den zur Problembehebung gerufenen Geistern, die schnell ein gefährliches Eigenleben entwickeln: „Ein verruchter Besen, / der nicht hören will! / Stock, der du gewesen,/ steh doch wieder still!“ Noch mancher, der jetzt mit dem eisernen Besen vermeintliche Verfassungsfeinde auskehren will, wird sich wundern, sobald ihn dieser selbst erfaßt. 

Die ideokratische Gesellschaftsordnung ist in sich selbst stagnierend und nicht mehr fähig zur rationalen Analyse gegenwärtiger Herausforderungen. Indem sie neue Phänomene auf altbekannte Muster reduziert, fehlen ihr die Instrumente für schärfere Diagnosen und unangenehme Lösungsstrategien. Aus dieser mythischen Blindheit bezieht sie ihre derzeitige Stärke. Sie erkennt aber nicht, daß das sie ermöglichende gesellschaftsliberale Fundament längst abgetragen wurde und nur noch eine Konkursmasse verwaltet wird.

Daß im antifaschistischen Mythos ein immanenter Untergang verborgen liegt wie in den uralten Überlieferungen über Ragnarök und Kali Yuga, ist indes kein Grund für Häme. Denn bis dahin wird er seinen Preis fordern. Es bietet allenfalls den Trost der Erkenntnis einer ewigen Wiederkehr.