© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Die Einschüchterungen parieren
Gegen Konformitätsdruck und „Cancel Culture“: Die Gründung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit
Till Kinzel

Daß es um die deutsche Universität nicht gut bestellt ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist der Einfluß politisch korrekter Denkweisen mit den Händen zu greifen. Forschung in den besonders ideologieanfälligen Bereichen Genderstudien und Migrationswissenschaft ist leider oft nur scheinbar Forschung – in Wirklichkeit handelt es sich vielfach um Versuche, politischen Aktivismus an den Hochschulen und Forschungsinstituten auszuleben, eine gesellschaftspolitische Agenda durchzusetzen. Auch in den gegenwärtigen Dekolonisierungs- und Antirassismuskampagnen legt sich politisch korrekter Mehltau auf Wissenschaft und Forschung, aber auch die populärwissenschaftliche Publizistik.

Bisher gab es wenig Gegenwehr. Dies ändert sich jetzt vielleicht – jedenfalls hat sich nun am 3. Februar erstmals nach langer Zeit wieder eine Gruppe von Professoren und Dozenten als „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ zusammengeschlossen. Der Sache nach knüpft das Netzwerk mit seinem Manifest (siehe Webseite) an frühere Organisationen wie den Bund Freiheit der Wissenschaft an, die sich einer Ideologisierung der Hochschulen im Gefolge der 68er Jahre widersetzten. 

Die Sprecherin des Netzwerks, die Schwäbisch-Gmünder Sozialwissenschaftlerin Sandra Kostner, die durch ihre Analyse der linken Läuterungsagenda bekannt geworden ist, greift wichtige Punkte auf, wenn sie beschreibt, was gegenwärtig an den deutschen Hochschulen schiefläuft: Sie weiß, welche Rolle der Vorwurf der „Kontaktschuld“ spielt, wie weltanschauliche Gegner eben nicht das offene argumentative Gespräch suchen, sondern hintenherum bei Vorgesetzten intervenieren, wie mittels eines „moralischen Furors“ abweichende Meinungen stigmatisiert werden. 

Und obwohl es etliche prominente dokumentierte Fälle gibt, wie der Siegener Philosoph Dietrich Schönecker betonte, der durch seine Einladungen von Vortragenden wie Thilo Sarrazin oder Marc Jongen einschlägige Erfahrungen sammeln konnte, ist es oft wahr, daß man nicht zeigen könne, wer von der beklemmenden Atmosphäre wirklich betroffen ist. 

Viele Einschränkungen bleiben unter dem Radar

Wie Kostner auf der (digital durchgeführten) Pressekonferenz mitteilte, würden die allermeisten, vielleicht drei Viertel, derjenigen, die ihr von ihren persönlichen Fällen erzählten, zugleich um Vertraulichkeit bitten. Die Angst vor „Konsequenzen“, wie abgelehnte Fördermittel, Blockade der Karriere oder eine Verweigerung der Kooperation, spielen dabei eine große Rolle. Viele Fälle von Einschränkungen akademischer Freiheit bleiben so unter dem Radar und werden auch nicht skandalisiert; die Einschränkungen seien heute überwiegend subtiler Natur. Aber eben das mache sie sogar gefährlicher als das, was man an spektakulären Fällen sehen kann. 

Ein Indiz dafür, wie sehr die Angst vor der Stigmatisierung grassiert, kann auch sein, wer sich alles von allen öffentlichen Debatten jeder Art fernhält – oder wer von vornherein davon absieht, als kontrovers angesehene Gastredner überhaupt einzuladen. All das hat eine hemmende Wirkung auf gelebte Wissenschaftsfreiheit, eine Wirkung allerdings, die von bestimmten Leuten auch gewünscht wird. Denn die Politisierung der Wissenschaft ist insbesondere für manche „Gatekeeper“ wichtig, also etwa die Gutachtergremien, die über die Vergabe von Forschungsförderungsmitteln entscheiden. 

Verschiedene Mitglieder des Netzwerkes brachten Beispiele für die Art und Weise, wie akademische Freiheit heute in Frage gestellt wird. Der Bielefelder Althistoriker Uwe Walter nannte die berüchtigte Münsteraner Resolution des Historikerverbandes als Beispiel einer gleichsam offiziellen Stellungnahme, die inhaltliche Bewertungen festzuschreiben suchte – ein Unding, zugleich aber ein schlagendes Beispiel für den überbordenden „Zwang zum Politischen“, den der Ethnomusikologe Ulrich Morgenstern mit Verweis auf eine Solidaritätsadresse eines internationalen Fachverbandes für die linksextreme „Black Lives Matter“-Bewegung konstatierte. 

Der Mainzer Historiker Andreas Rödder nannte Resolutionen und Selbstverpflichtungen, die nur die Spitze eines Eisbergs seien, der sich schon darunter angehäuft habe. Er sprach prägnant von einem „Prozeß der Selbstkonformisierung“ der Wissenschaftler, wo natürlich wirklich der Hase im Pfeffer liegt. Rödder stellte auch heraus, daß die Forschungsfreiheit auch durch das System der „unternehmerischen Universität“ in Deutschland unter Druck geraten sei. Denn Abhängigkeit von Drittmitteln züchte eben jene Selbstkonformisierung durch Anpassung. 

Freiheit von Forschung und Lehre in Anspruch nehmen

Selbst in medizinischen Forschungsanträgen wird schon auf unterster Ebene eine Normierung erzeugt, wenn die Antragsteller eifrig alles mit Gendersternchen schreiben, in der wohl begründeten Erwartung, andernfalls würde man ihren Antrag abschlägig bescheiden. Zu den Einschränkungen gehört also auch die vorauseilende Unterwerfung etwa unter die Gendersprache – im Wissen darum, daß die Verweigerung der „Genderisierung“ von Texten und Vorlesungen von Seiten der Studenten und sogar Kollegen auf massive Kritik stoßen kann, wie der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel berichtete. 

Das neue Netzwerk spielt mit offenen Karten und nennt auf seiner Webseite die Namen der Mitglieder – eine bewußte Entscheidung dafür, Gesicht zu zeigen und sich nicht länger zu verstecken. Das kann Mut machen – und es steht zu hoffen, daß daraus eine stärkere Dynamik erwächst. Es sollte jedenfalls entschieden gegen den erwartbaren Vorwurf angegangen werden, so der Berliner Historiker Jörg Baberowski, es handele sich bei dem Netzwerk wieder nur darum, eine angebliche Deutungshoheit alter weißer Männer zu erhalten. Das aber ist ein Mythos; denn eine solche Deutungshoheit gebe es nicht einmal unter den Historikern eines Fachgebietes. Die Berufung auf Argumente und deren Plausibilität dürfe nicht durch solche politische Stigmatisierungen unterminiert werden. 

Zentrales Ziel des Netzwerkes ist die Aushebelung der einschüchternden psychologischen Wirkung von Ausgrenzungen, wenn den betroffenen Kollegen wieder einmal niemand beispringt – weil man ja selbst in den Sog der Etikettierung als „umstritten“ hineingezogen werden könnte. Hier wird das Netzwerk eine nützliche Funktion übernehmen können und müssen. Vor allem aber muß selbstbewußt die umfassende Freiheit von Forschung und Lehre in Anspruch genommen und ebenso offensiv wie sichtbar nach außen getragen werden. 





Netzwerk Wissenschaftsfreiheit

Das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ ist am 3. Februar mit einer Presseerklärung und einer virtuellen Pressekonferenz an die Öffentlichkeit getreten. Zuvor hatten sich 70 Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum und unterschiedlichen akademischen Disziplinen zusammengeschlossen, die namentlich auf der Internetseite des Netzwerks aufgeführt sind. Die große Mehrheit der Teilnehmer hat einen Lehrauftrag an bundesdeutschen Universitäten, vier lehren in der Schweiz, fünf in Österreich. Mit dem Theologen Ingolf Dalferth (Claremont) und dem Germanisten Russell Berman (Stanford) sind auch zwei an der US-Westküste lehrende Wissenschaftler vertreten. Neben mehreren Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern sind zudem zwei Informatiker, zwei Musikwissenschaftler und zwei Biologen mit von der Partie. Die übergroße Mehrheit sind allerdings Geisteswissenschaftler. 


Unter ihnen wiederum sind Historiker eine der signifikanten Größen. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß sich mit Peter Hoeres (Würzburg) und Dominik Geppert (Potsdam) die beiden Historiker im „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ engagieren, die bereits 2018 gegen „Gruppendruck und Bekenntniszwang“ publizistisch mobil machten (FAZ vom 12. Oktober 2018). Diesen beklagten sie in der Verabschiedung einer politisch einseitigen Resolution ihres Verbandes ohne Debatte und per Akklamation auf dem Historikertag im selben Jahr (JF 43/18). Ihnen sprang damals auch Andreas Rödder (Mainz) zur Seite, der die „Resolution stellvertretend für die Diskurskultur innerhalb der bundesdeutschen Historikerschaft“ brandmarkte, in der durch „Moralisierung“ etablierte Wissenschaftler unter Apologieverdacht gerieten. Rödder steht nun in der „Steuerungsgruppe“ dem Netzwerk vor, zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann (Frankfurt/Main), der Philosophin Maria-Sibylla Lotter (Bochum) und dem Juristen Martin Nettesheim (Tübingen).


Die Sprecherin des Netzwerks, die Soziologin Sandra Kostner (Schwäbisch Gmünd), hatte bereits vor Jahren in der Frage der Identitätskonflikte mit dem Islam die Mechanismen der „Cancel Culture“ kennengelernt. Wegen ihrer Forderungen, daß „Gerichte, Politik und staatliche Institutionen darauf reagieren müssen, daß der politisch-identitäre Islam das Grundrecht auf Religionsfreiheit mißbrauche“, ächtete die Stuttgarter Zeitung 2019 Kostner flugs als „Boris Palmer unter den Migrationsforschern“. Derartigen Polarisierungen waren andere Netzwerk-Mitglieder wie Jörg Baberowski (Berlin) oder Egon Flaig (Rostock) in Anbetracht grölender und Psychoterror ausübenden Antifa-Gruppen an ihren Universitäten sogar in viel stärkerer Form ausgesetzt.


Solchen Versuchen entgegenzuwirken, die wissenschaftliche Arbeit von Hochschulangehörigen einzuschränken, ist eines der formulierten Ziele im Manifest. Ebenso wie die Forderung einer Debattenkultur „frei von Sorgen vor moralischer Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung oder beruflicher Benachteiligung“ sind diese Absichtsbekundungen allerdings nur schwer durchzusetzen oder gar einklagbar. „Wir bestehen darauf, daß Debatten von gegenseitigem Respekt geprägt sind und Ad-hominem-Argumente unterbleiben“ – solche Beschwörungen klingen in diesem Kontext beinahe hilflos.


Interessanter sind die angekündigten Aktivitäten. So beabsichtigt das Netzwerk, Fälle von Einschränkung der Forschungs- und Lehrfreiheit offenzulegen und sogar „Gegenstrategien“ zu entwickeln. Ferner sollen Debattenformate organisiert werden, in denen „möglichst viele Perspektiven in einem offenen intellektuellen Klima ausgetauscht werden“. Vielleicht ist es auch den Bedingungen der Corona-Pandemie geschuldet, daß in der Programmvorschau des Netzwerkes „noch keine Veranstaltungen gelistet“ sind.


Dennoch kann das Netzwerk einer der wesentlichen Waffen der „Cancel Culture“ entgegenwirken: Fortan soll der Umstand bekämpft werden, daß „denjenigen, die ins Visier des ideologischen Aktivismus geraten, wegen des Risikos, selbst zur Zielscheibe zu werden, niemand beispringt“. Solidarisch will das Netzwerk künftig „die Kolleginnen und Kollegen sowie all diejenigen unterstützen, die sich Angriffen auf ihre Wissenschaftsfreiheit ausgesetzt sehen“. (bä)