© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/21 / 12. Februar 2021

Die Welt ist kein Vaterland
Eine Politik der Illusionen stieß die Nationalstaaten in den Sog der zweiten Globalisierung
Dirk Glaser

Andreas Wirschings Betrachtung über „Nationalstaat und Globalisierung“ hebt an mit ein paar richtigen Feststellungen zum Forschungs- und Diskussionsstand (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/2020). Unstrittig, so führt der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte aus, habe das Modethema Globalisierung seit zwei Jahrzehnten eine „kaum mehr zu überblickende Masse von Beschreibungen, Analysen und Theorien“ erzeugt und die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften „nachhaltig erobert“. 

Selbst die Geschichte der Antike oder der Frühen Neuzeit werde heute als „Globalisierungsgeschichte“ verpackt, und auch biedere Regionalstudien kämen aus „aufmerksamkeitsökonomischen“ Gründen nicht mehr ohne ein einschlägiges Etikett aus, wenn sich etwa ein in den bodenständigen Blättern für deutsche Landesgeschichte publizierter Aufsatz über „Globalisierung und Küstenschiffahrt in der Ostsee und in Ostasien“ mit dem so beliebten Begriff schmücke.

USA wollten andere Länder wirtschaftlich durchdringen

Ebenso ist zutreffend, daß sich schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie Stimmen häuften, die unter dem Eindruck verheerender ökologisch-sozialer „Kollateralschäden“ im Schlepptau der Trias Deregulierung, Privatisierung, Internationalisierung von „gescheiterter Globalisierung“ sprechen. Korrekt ist daher auch Wirschings Beobachtung, daß spätestens seit der Weltfinanzkrise (2007/08) über die Nachtseiten der Globalisierung wie Erosion des Sozialstaats, weltweite Verschärfung sozialer Ungleichheit und plutokratische Aushöhlung des westlichen Demokratiemodells lauter diskutiert werde. Und schließlich ist Wirsching nicht zu widersprechen, wenn er kritisiert, die Rede über Globalisierung sei heute zum Passepartout eines „ahistorischen Verflechtungsbegriffs“ verkommen, dem zufolge  es Austauschbeziehungen zwischen Völkern ja schon immer gab. 

In derart ubiquitärer Verbreitung lasse sich der Begriff aber nicht analytisch-geschichtswissenschaftlich nutzen, um zeitdiagnostische Erkenntnisgewinne zu erzielen. Zu diesem Zweck müsse er vielmehr „epochenspezifisch“ auf die Zeit zwischen 1975 und unserer Gegenwart beschränkt werden.

An dieser Stelle, wo sein Versuch einsetzt, eben das Spezifische, die historische Einmaligkeit dieser zweiten aus dem Vergleich mit der ersten (1850 bis 1914) und der „halbierten Globalisierung“, den „Trente Glorieuses“ zwischen 1945 und 1975, abzuleiten, stochert Wirsching leider nur noch im selbsterzeugten Nebel. „Völlig neue Entwicklungen“ vermag er darum nicht zu identifizieren. Denn die immensen quantitativen, durch die Erfindung des Internets begünstigten Steigerungen weltwirtschaftlicher Vernetzungen seit 1975 seien „im Kern bekannte Phänomene“ und bildeten keine qualitativen Differenzen zur Epoche der Industrialisierung, des Imperialismus und Kolonialismus aus. Wie auch alle Merkmale der heutigen Globalisierung – Vertiefung internationaler Arbeitsteilung, Ausweitung des Welthandels und der Auslandsproduktion, Ausdehnung der Finanzmärkte, technische Innovationen, Grenzöffnungen und Migrationsbewegungen – „nicht per se neu sind“.

Was Wirsching hier frei nach Nietzsche als Wiederkehr des Gleichen präsentiert, scheint ihm daher konsequent das Werk anonymer, dem Historiker nicht faßbarer Mächte, die um 1975 einen „Strukturwandel“ anschoben, dessen geheimnisvolle „Dynamik“ dann ebenso ominöse „Krisenerscheinungen“ nach dem Muster autonom ablaufender chemischer Reaktionen „katalytisch verstärkten“. Konkreter wird es erst ein paar Absätze später, wenn der Münchner Zeithistoriker „amerikanische Wirtschaftskreise“ erwähnt, die während der Präsidentschaft Gerald Fords Druck auf die US-Administration ausübten, damit sie  „Wünsche multinationaler Unternehmen nach Liberalisierung des internationalen Handels“ erfülle. Was dazu führte, daß die USA mit ihren „robusten nationalen Eigeninteressen“, wie Wirsching die „Wünsche“ der Konzernherrn und des Finanzkapitals mit feinem Sinn für Diskretion nennt, zur „treibenden Kraft“ bei der Umsetzung der „Idee des größtmöglichen Freihandels“ wurden. 

John K. Galbraith (1908–2006), ein vom Autor bemühter Klassiker der Ökonomie, brachte das 1997 präziser auf den Punkt: „Die Globalisierung ist nichts Ernsthaftes. Wir, die Amerikaner, haben sie als ein Mittel erfunden, um zu verschleiern, daß wir mit unserer Politik andere Nationen wirtschaftlich durchdringen“. Für einen bundesdeutschen Hofhistoriker nähren solche „allzu einfachen Antworten“ natürlich „platten Antiamerikanismus“ oder stützen neomarxistische Deutungen, die in der globalisierten US-Billiglohn-Ökonomie nichts anderes als die „aktuelle Phase des Imperialismus“ sehen.  

Völker, Nationen und Kulturen werden geopfert

Allerdings ist Wirsching zu konzedieren, daß derart monokausale Erklärungen den Anteil verdecken, den jene politischen „Eliten“ an der Bildung eines transnationalen Wirtschaftsraums, an der „Entterritorialisierung, und Denationalisierung von Kommunikation, Rechtsnormen und wirtschaftlichen Aktivitäten“ hatten und haben, die sie ihren Bürgern gern als „Naturereignis“ oder alternativloses „Schicksal“ (Wolfgang Schäuble) verkaufen. 

Für Wirsching agierten dabei besonders die Bundesdeutschen, die ohnehin „leichter bereit sind, globale Neuformulierungen von Raum und Territorium zu akzeptieren“, stets als Getriebene. Eröffneten doch in den 1970ern, im Bann von Ölpreisschock, Konjunktureinbruch und Massenarbeitslosigkeit wirtschaftliche Liberalisierung und Transnationalisierung westeuropäischen Regierungen scheinbare Auswege aus einer Krise, die sie trotz der vom Club of Rome schon abgesteckten „Grenzen des Wachstums“ nicht als fundamentale Krise des nicht nachhaltigen kapitalistischen Systems wahrnahmen. Darum schlossen sie einen Teufelspakt, indem sie die Mensch und Natur einer forcierten „Ausbeutung 4.0“ unterwerfenden Mächte der „Märkte“ zu Lasten nationaler Souveränität stärkten. Dem Mantra vertrauend, das US-Unterhändler auf handelspolitischen Marathonkonferenzen abspulten: „Eine grenzenlose Welt verbessert das Leben aller Bürger weltweit.“

Das war bekanntlich eine Illusion. „Die Welt ist kein Vaterland“ (Max Gallo). Politiker, die ihr bis heute nachjagen, opfern dem „Eine Welt“-Phantasma „grenzenloser Transaktion und Mobilität“ das Pluriversum der Völker, Nationen und Kulturen. Darin hätte Wirsching übrigens das genuin Neue, den Markenkern der zweiten Globalisierung entdecken können: Heute sind  Nationalstaaten deren Objekte, bis 1914 waren sie Subjekte der ersten Globalisierung.